Ein Schuss durchreißt die Luft, und ich stöhne überrascht auf, meine Hand fliegt zu meinem Mund.
»Wer lacht jetzt?«, fragt Preston, seine Miene frei von jedem Hohn und Spott.
Jetzt liegt sie im Schnee, blutend. Wie der falsche Cameron, mit einem Loch im Herzen. Tot.
»Gehen wir!«, brüllt Preston.
Und dann gehen sie.
Es ist vorbei.
Vorbei. Dabei wird es nie vorbei sein. Nicht nach dem, was uns passiert ist. Die grausigen Bilder schleichen sich immer wieder in unsere Gedanken. Machen sich selbständig in unseren Albträumen. Eigentlich … nicht nur dann.
Vor mir erstreckt sich der Speisesaal des Hotels, die Wand zur Küche wurde durchbrochen, sodass sich die Essensgerüche durch den ganzen Saal ziehen.
Neptune steht noch am Herd, leert gerade den Großteil der Ketchup-Flasche in eine Pfanne und rührt die Soße mehr oder weniger fachmännisch zusammen. Eindeutig ein guter Tag für ihn, wie’s aussieht.
»Doch hungrig?« Er grinst über seine Schulter hinweg, aber irgendwie ist sein Grinsen merkwürdig, und kostet dann von der Soße, verbrennt sich aber die Zunge und beginnt zu jammern. Ich lächle verhalten und schüttle den Kopf. Tyler und Lynn sind bereits da, und ich beschließe, mich zu Lynn zu gesellen.
Er ist zurück, ertönt Neptunes Gedanke in meinem Kopf, und ich werfe ihm einen raschen Blick zu, den er mir mit einem Schulterzucken beantwortet. Vor einer Minute zur Tür herein.
In dem Moment schlägt die Kühlschranktür zu, und meine Augen huschen zu der Person dahinter. Ich friere in meiner Bewegung ein, die Hand immer noch auf einer Stuhllehne.
»Hallo, Crys.« Camerons Stimme ist dunkel, seine Haare sind kürzer als beim letzten Mal. Er ist es. Er ist wieder hier.
»Hallo.« Ich schlucke und schlage meine Augen nieder. Ich will ihn nicht ansehen. Mein Kiefer verkrampft sich, ich nehme Platz und starre anschließend meinen Teller nieder.
Cam setzt sich zwei Plätze von mir entfernt, als hätte er Angst, sich mir zu nähern. Er öffnet eine Getränkedose und fängt ein Gespräch mit Tyler an, um die plötzlich eingetretene Stille zu brechen.
»Ich höre, du trainierst?«, sagt er, seine Stimme kratzt ein wenig, als wäre er heiser.
Tyler nickt, erwidert aber nichts darauf, sichtlich nicht an einem Gespräch interessiert.
»Wenn du willst, könnte ich Nick fragen, ob er dich coacht. Wir können gute Kämpfer gebrauchen.«
Das macht er immer. Cameron geht und kommt, wann er will. Ist plötzlich wieder hier und dann nicht mehr und erwartet trotzdem, dass man so tut, als wäre er nie weg gewesen. Nicht mit mir.
Weil Tyler immer noch schweigt, werfe ich ihm einen kurzen Seitenblick zu. Gedankenabwesend spielt er mit einer Gabel, seine Knöchel sind aufgeschürft.
»Na dann«, wirft Neptune ein, um die peinliche Stille zu beenden. »Bereit für die besten Spaghetti, die ihr jemals gegessen habt?« Küchenhandschuhe an beiden Händen, nimmt er die Pfanne und stellt sie in die Mitte des Tisches.
»Das hast du letzte Woche auch schon gesagt. Und die Woche davor, wenn ich mich recht erinnere.«
Der Stuhl neben mir wird nach hinten gezogen, Ace lässt sich darauf nieder. Zwischen Cam und mir. Dort, wo er wahrscheinlich gerade am wenigsten sein will. Wie immer ist er in ein helles Hemd und eine passend geschnittene Jeans gekleidet, wohl ein Überbleibsel an Eleganz und Reichtum aus seinem früheren Leben. Cameron hingegen trägt ein schwarzes T-Shirt und eine dunkle Hose. Ace sieht beinahe so schrecklich aus wie ich, und insgeheim mache ich mir Sorgen um ihn. Auf seiner Stirn liegt ein dünner Schweißfilm und er wirkt erschreckend blass.
Neptune will gerade ansetzen, um zu protestieren, doch da poltert Dave die Stufen herunter.
»Hey, wen haben wir denn da? Der böse Junge ist zurück!« Er geht unumwunden mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf Cam zu und klopft ihm auf die Schulter. Als ich sie beobachte, streift Cams Blick meinen, und schnell starre ich auf das Tischtuch.
»Ich bin nicht so leicht totzukriegen«, sagt Cam, die Mundwinkel hochgezogen.
»Klar, Mann. Sind wir alle nicht!« Dave richtet sich auf, streckt dann die Nase in die Luft wie ein Suchhund. »Mann, schon wieder Nudeln und Ketchup?«, fragt er, seine Stimme ist zu laut für meine Ohren. Er beäugt die Pfanne.
Neptune sieht ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Beschwerst du dich etwa, obwohl du nie zum Küchendienst eingeteilt bist? Wenn ja, wirst du heute wohl ohne Nachtisch ins Bett gehen müssen, Sahneschnittchen.«
Dave, der auf Neptunes Anmachen immer mit einem Lachen reagiert, wackelt mit den Augenbrauen. »Es gibt Nachtisch?«
Neptune stützt eine Hand in seine Seite. »Ja. Mich.«
Kurz ist es still, doch dann lacht Lynn leise los, und auch ich kann nicht anders, als zu schmunzeln.
Dave, etwas irritiert von der Antwort, schüttelt den Kopf. »Du bist so ein Freak, Mann.«
Neptune zuckt mit den Schultern. »Ach was.«
Tyler schaufelt sich als Erster den Teller mit Nudeln voll.
»Wie viel möchtest du?«, fragt mich Ace betont höflich, als er sich eine Portion nimmt.
»Bloß wenig. Ich bin nicht hungrig, danke«, erwidere ich im gleichen Tonfall und sehe zu, wie er mir die Spaghetti auf den Teller legt. Nie hätte ich gedacht, dass es jemals so kalt zwischen uns sein könnte. Wir wissen nicht, wie wir miteinander umgehen sollen.
Wir essen still vor uns hin, Neptune wirft uns abwechselnd Blicke zu, als würde er die Stille nicht ertragen. »Wo ist Mr Zu-schnell-für-seine-Schuhe?«, fragt er schließlich.
Lynn atmet tief ein, wischt sich kurz mit der Serviette über den Mund und faltet dann die Hände in ihrem Schoß zusammen. Sie trägt ein dunkelgrünes Top, das ihre zarten Züge unterstreicht. Die Haut, wo einst ihr Tattoo prangte, ist nun glatt und makellos, ohne ein Zeichen des früheren Leids. »Er packt gerade.«
Cameron lässt den Löffel sinken und starrt sie über den Tisch hinweg an. »Shinji tut was?«, fragt er, seine Augen aufgerissen. Braun. Ohne Sonne und ohne Mond. Nur dunkel, wie eine sternenlose Nacht. Vielleicht tauchen die Planeten nur auf, wenn er mich ansieht. Sofort verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Ich bin keinen Sternenhimmel wert.
Lynn atmet ein, als hätte sie sich lange auf diese Konversation vorbereitet. »Es ist schon mit Carter besprochen. Shinji und ich … morgen früh. Wir haben die Erlaubnis, nach Hause zu gehen.«
Cameron beugt sich über den Tisch, seine Muskeln sind angespannt. »Nach Hause … nach England?«
»Nein. Nach Hause wie zu Hause in China.«
Meine Augen weiten sich geschockt. Ich blicke zwischen ihr und Cam hin und her. Jetzt ist sogar das Klackern von Besteck verstummt. Neptunes und mein Blick kreuzen sich.
Hast du davon gewusst?, fragt er mich in Gedanken. Ich schüttle leicht den Kopf.
»Das werdet ihr nicht überleben. Zwischen hier und China gibt es gerade mal zwei Länder, die neutral sind und in denen kein Krieg herrscht.« Cam ist außer sich.
Lynn verzieht den Mund. »Wir sind uns dessen bewusst, doch wir werden es trotzdem versuchen. Wir sind dankbar für alles, Cameron, aber du musst es verstehen. Das hier ist nicht unser Zuhause.«
Cams Kiefer verkrampft sich, eine Hand krallt sich in das Tischtuch. »Das ist idiotisch.«
»Kriege sind auch idiotisch.« Mit diesem Satz erhebt sich Lynn und geht aus der Tür, lässt ihren halbvollen Teller zurück. Ich seufze leise, eine leichte Wehmut steigt in mir hoch. Auch wenn ich die meiste Zeit mit Neptune verbringe, ist mir Lynn doch sehr ans Herz gewachsen. Ich kann nicht glauben, dass Carter ihnen erlaubt hat zu gehen. Dennoch: Sie hat recht. Wenn ich könnte, würde ich auch gehen. Aber das englische Militär hat laut Carters Informanten in der Stadt bereits großräumige Suchaktionen gestartet – nicht nur im Wald, sondern auch im ganzen Norden Englands.
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