»Ist die Post fertig?«
»Fertig!«
Es kam ihm vor, als ob der Heizer viel zu oft in den Wagen käme und auf das Thermometer schaue, als ob das Brausen der entgegenkommenden Züge und das Dröhnen der Räder auf den Brücken ununterbrochen zu hören wären. Der Lärm, die Pfiffe, der Finne, der Tabakrauch – alles vermischte sich mit den Drohungen und dem Winken nebliger Gestalten, auf deren Form und Charakter ein gesunder Mensch sich nicht besinnen kann, und lastete auf Klimow wie ein unerträglicher Alp. Von entsetzlichem Unlustgefühl bedrückt, hob er zuweilen den schweren Kopf, sah nach einer Laterne, in deren Lichte Schatten und Nebelflecke tanzten, und wollte um Wasser bitten, aber seine ausgetrocknete Zunge bewegte sich kaum, und er hatte fast nicht die Kraft, die Fragen des Finnen zu beantworten. Er versuchte, sich bequem auszustrecken und einzuschlafen, aber das gelang ihm nicht; der Finne schlief ein, erwachte, setzte seine Pfeife in Brand, wandte sich an ihn mit seinem »Ha!« und schlief wieder ein, und das wiederholte sich einigemal, aber die Beine des Oberleutnants konnten noch immer nicht Platz auf dem Sofa finden, und die drohenden Gestalten standen immer vor seinen Augen.
In Spirowo ging er ins Stationsgebäude, um Wasser zu trinken. Er sah hier Leute am Tische sitzen und mit großer Eile essen.
– Wie können sie nur essen! dachte er sich und gab sich Mühe, die Luft, die nach gebratenem Fleische roch, nicht einzuatmen und die kauenden Münder nicht zu sehen: beides erschien ihm ekelerregend.
Eine hübsche Dame unterhielt sich laut mit einem Offizier in roter Mütze und zeigte beim Lächeln herrliche weiße Zähne; das Lächeln, die Zähne und die Dame selbst erregten in Klimow den gleichen Ekel wie der Schinken und die Kotelette. Er konnte nicht begreifen, wie der Offizier in roter Mütze den Mut hatte, an ihrer Seite zu sitzen und ihr blühendes, lächelndes Gesicht anzuschauen.
Er trank etwas Wasser, und als er in sein Abteil zurückkehrte, war der Finne wieder wach und rauchte. Seine Pfeife gab heisere, schluchzende Töne von sich wie ein durchlöcherter Gummischuh bei nassem Wetter.
»Ha!« rief er erstaunt. »Was ist das für eine Station?«
»Ich weiß nicht,« antwortete Kliwow. Er legte sich hin und schloß den Mund, um den beißenden Tabakrauch nicht atmen zu müssen.
»Und wann kommen wir nach Twer?«
»Ich weiß nicht. Entschuldigen Sie, ich ... ich kann Ihnen keine Antwort geben. Ich bin krank, ich habe mich erkältet.«
Der Finne klopfte seine Pfeife am Fensterrahmen aus und begann von seinem Bruder, dem Seeoffizier zu erzählen. Klimow hörte ihm nicht mehr zu und dachte mit Sehnsucht an sein weiches, bequemes Bett, an die Karaffe mit kaltem Wasser und an seine Schwester Katja, die es so gut versteht, ihn zu Bett zu bringen, zu beruhigen und ihm Wasser zu reichen. Er lächelte sogar, als er in Gedanken seinen Burschen Pawel sah, wie er ihm die schweren, drückenden Stiefel auszog und ein Glas Wasser auf das Nachttischchen stellte. Er glaubte, daß, wenn er sich bloß in sein Bett legen und etwas Wasser trinken könnte, der Alp einem tiefen, gesunden Schlafe Platz machen würde.
»Ist die Post fertig?« fragte draußen eine dumpfe Stimme.
»Fertig!« antwortete eine Baßstimme dicht vor dem Fenster.
Das war schon die zweite oder dritte Station nach Spirowo.
Die Zeit flog schnell, ruckweise dahin, und es war ihm, als ob die Glockenzeichen, Pfiffe und Haltestellen niemals aufhören würden. Klimow drückte das Gesicht voller Verzweiflung in eine Sofaecke, umfaßte den Kopf mit beiden Händen und begann wieder an seine Schwester Katja und den Burschen Pawel zu denken; aber die Schwester und der Bursche vermischten sich mit den Nebelbildern und verschwanden. Sein heißer Atem wurde von der Sofalehne zurückgeworfen und versengte ihm das Gesicht, seine Beine lagen unbequem, aus dem Fenster zog es ihm in den Rücken, aber wie qualvoll seine Lage auch war, wollte er sie doch nicht mehr wechseln... . Eine schwere, unheimliche Faulheit bemächtigte sich seiner und fesselte seine Glieder.
Als er sich entschloß, den Kopf zu heben, war es im Wagen schon ganz hell. Die Passagiere zogen ihre Pelzmäntel an und bewegten sich hin und her. Der Zug hielt. Träger mit weißen Schürzen und Blechnummern an der Brust machten sich überall zu schaffen und griffen nach dem Gepäck. Klimow zog seinen Mantel an und ging mechanisch mit den anderen aus dem Wagen. Es schien ihm, als ob es gar nicht er sei, der da ging, sondern jemand anderer, Fremder, und er fühlte, daß zugleich mit ihm auch sein Fieber, sein Durst und die drohenden Gestalten, die ihn die ganze Nacht nicht hatten einschlafen lassen, aus dem Wagen gestiegen waren. Er holte mechanisch sein Gepäck und nahm sich eine Droschke. Der Droschkenkutscher verlangte von ihm in der Powarskajastraße einen Rubel fünfundzwanzig, er aber feilschte nicht und setzte sich gehorsam in den Schlitten. Den Unterschied zwischen den Zahlen verstand er noch, aber das Geld hatte für ihn gar keinen Wert mehr.
Zu Hause empfingen ihn die Tante und seine Schwester Katja, ein achtzehnjähriges junges Mädchen. Katja hielt bei der Begrüßung ein Heft und einen Bleistift in der Hand, und er erinnerte sich, daß sie sich zum Lehrerinnenexamen vorbereitete. Ohne die Fragen und Begrüßungen zu beantworten, ging er planlos durch alle Zimmer, dann zu seinem Bett und fiel mit dem Kopf in die Kissen. Der Finne, die rote Mütze, die Dame mit den weißen Zähnen, der Bratengeruch und die verschwimmenden Flecken füllten auf einmal sein ganzes Bewußtsein, und er wußte nicht mehr, wo er war, und hörte nicht die besorgten Stimmen.
Als er zu sich kam, sah er sich entkleidet in seinem Bette liegen, sah die Wasserkaraffe auf seinem Nachttisch und den Burschen Pawel, aber davon wurde es ihm weder kühler, noch weicher, noch bequemer. Beine und Arme wollten noch immer nicht richtig liegen, die Zunge klebte am Gaumen, und er hörte das Schmatzen der Pfeife... . Am Bette machte sich, den Burschen Pawel mit seinem breiten Rücken stoßend, der dicke, schwarzbärtige Hausarzt zu schaffen.
»Keine Sorge, junger Mann!« murmelte er. »Sehr schön, sehr schön... . So, so... .«
Der Arzt nannte Klimow einen jungen Mann, und sagte immer: so, so, und: ja, ja... .
»Ja, ja, ja,« schüttelte er nur so hin. »So, so... . Sehr schön, junger Mann... . Nur nicht den Mut verlieren!«
Das schnelle, unhöfliche Gerede des Doktors, sein sattes Gesicht und die herablassende Anrede »junger Mann« brachten Klimow außer sich.
»Warum nennen Sie mich junger Mann?« stöhnte er. »Was für eine plumpe Vertraulichkeit? Zum Teufel!«
Und er erschrak vor seiner eigenen Stimme. So trocken, schwach und singend war diese Stimme, daß er sie gar nicht wiedererkannte.
»Sehr gut, herrlich,« murmelte der Arzt, der sich gar nicht verletzt zu fühlen schien. »Nur keine Aufregung... . Ja, ja... .«
Auch zu Hause flog die Zeit ebenso schnell dahin wie in der Eisenbahn... . Das Tageslicht wechselte in seinem Schlafzimmer jeden Augenblick mit der Abenddämmerung ab. Der Arzt schien von seinem Bette gar nicht wegzugehen, und er hörte jeden Augenblick sein »Ja, ja«. Ein langer Reigen verschiedener Menschen zog an seinem Bette vorbei. Er erkannte den Burschen Pawel, den Finnen, den Feldwebel Marimenko, den Offizier mit der roten Mütze, die Dame mit den weißen Zähnen und den Arzt. Sie alle sprachen, fuchtelten mit den Händen, rauchten und aßen. Einmal erblickte er sogar bei Tageslicht seinen Regimentsgeistlichen P. Alexander, der in vollem Ornat mit dem Brevier in der Hand vor seinem Bette stand, etwas murmelte und dabei ein so ernstes Gesicht machte, wie es Klimow bei ihm noch niemals gesehen hatte. Dem Oberleutnant fiel es ein, daß P. Alexander alle Offiziere katholischer Konfession in freundschaftlichem Verkehr »Pollaken« zu nenen pflegte; um ihn zum Lachen zu bringen, sagte er ihm jetzt:
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