»Hochwürden, der Pollake Jaroschewitsch ist zu den Aufständischen entlaufen!«
Aber P. Alexander, der sonst lustig und zum Lachen aufgelegt war, lachte jetzt nicht, sondern wurde noch ernster und bekreuzigte Klimow. Während der Nacht erschienen jeden Augenblick zwei Schatten vor seinem Bette. Es waren die Tante und die Schwester. Der Schatten der Schwester kniete nieder und betete: sie verneigte sich vor dem Heiligenbilde, und auch ihr grauer Schatten an der Wand verneigte sich, so daß zwei Schatten zu Gott beteten. Es roch die ganze Zeit nach Braten und nach der Pfeife des Finnen, aber einmal spürte Klimow auch den ausgesprochenen Geruch von Weihrauch. Es wurde ihm davon übel, und er schrie:
»Weihrauch! Fort mit dem Weihrauch!«
Er bekam keine Antwort. Er hörte nur leisen Priestergesang und wie jemand die Treppe auf und ab lief.
Als Klimow wieder zu sich kam, war im Schlafzimmer keine Seele. Die Morgensonne leuchtete durch den Vorhang herein, und ein wie eine Klinge feiner und graziöser zitternder Strahl spielte auf der Karaffe. Draußen dröhnten Wagenräder, also gab es keinen Schnee mehr. Der Oberleutnant betrachtete den Sonnenstrahl, die ihm wohlbekannten Möbel, die Türe und lachte plötzlich auf. Seine Brust und sein ganzer Leib zitterten vor süßem, seligem, kitzelndem Lachen. Seines ganzen Wesens vom Kopf bis zu den Füßen bemächtigte sich das Gefühl eines grenzenlosen Glückes und einer Lebensfreude, wie sie wohl der erste Mensch empfand, als er eben erschaffen war und zum ersten Mal die Welt sah. Klimow verlangte es leidenschaftlich nach Bewegung, nach Menschen, nach Stimmen. Sein Körper lag wie eine unbewegliche Masse da, nur seine Hände allein bewegten sich, aber er merkte es kaum und lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf allerlei Kleinigkeiten. Er freute sich über seinen Atem, über sein Lachen, er freute sich, daß es die Karaffe, die Zimmerdecke, den, Sonnenstrahl und das Band am Fenstervorhang gab. Die Welt Gottes erschien ihm selbst in einem so engen Raume wie sein Schlafzimmer herrlich, reich und groß. Als der Doktor kam, dachte sich der Oberleutnant, was für ein herrliches Ding die Medizin sei, wie lieb und sympathisch der Arzt, und wie gut und interessant alle Menschen wären.
»Ja, ja, ja,« sagte der Doktor. »Herrlich, herrlich. Nun sind wir gesund... . So, so!«
Der Oberleutnant hörte ihm zu und lachte vor Freude. Er erinnerte sich an den Finnen, an den Schinken und an die Dame mit den weißen Zähnen, und spürte plötzlich Lust zu essen und zu rauchen.
»Herr Doktor,« sagte er, »lassen Sie mir doch ein Stück Schwarzbrot mit Salz geben und ... und Sardinen.«
Der Arzt verweigerte es ihm, Pawel hörte nicht auf den Befehl seines Herrn und brachte kein Brot. Der Oberleutnant konnte das nicht ertragen und fing wie ein verzogenes Kind zu weinen an.
»Kleinchen!« rief der Arzt lachend. »Mama! Eia popeia!«
Auch Klimow lachte und schlief, als der Arzt gegangen war, sofort ein. Er erwachte mit dem gleichen Gefühl von Freude und Seligkeit. An seinem Bette saß die Tante.
»Ach so, die Tante!« rief er erfreut. »Was hab ich gehabt?«
»Flecktyphus.«
»So, so. Jetzt ist mir aber so wohl, so wohl! Wo ist Katja?«
»Sie ist nicht zu Hause. Ist wohl nach dem Examen irgendwo hingegangen.«
Als die Alte das sagte, beugte sie sich über ihren Strickstrumpf; ihre Lippen zitterten, sie wandte sich weg und fing plötzlich zu schluchzen an. In ihrer Verzweiflung dachte sie nicht mehr an das Verbot des Arztes und sagte:
»Ach, Katja, Katja! Unser Engel ist nicht mehr! ...«
Sie ließ den Strumpf fallen, und als sie sich nach ihm beugte, rutschte ihr die Haube vom Kopf. Klimow blickte verständnislos ihren grauen Kopf an und fragte erschrocken:
»Wo ist sie denn? Tante!«
Die Alte, die nicht mehr an Klimow, sondern nur noch an ihren Schmerz dachte, sagte:
»Sie hat sich bei dir den Typhus geholt und ... und ist gestorben. Vorgestern hat man sie beerdigt.«
Diese schreckliche, unerwartete Neuigkeit bemächtigte sich im Nu des Bewußtseins Klimows, aber wie entsetzlich und stark sie auch war, konnte sie die animalische Freude doch nicht niederringen, die den genesenden Oberleutnant erfüllte. Er weinte und lachte und begann sehr bald zu schimpfen, daß man ihm nichts zu essen gäbe.
Erst nach einer Woche, als er in seinem Schlafrock, von Pawel gestützt, ans Fenster trat, den bewölkten Frühlingshimmel sah und das unangenehme Dröhnen der alten Eisenbahnschienen, die man gerade vorbeiführte, hörte, krampfte sich sein Herz vor Weh zusammen, und er drückte die Stirne an das Fensterglas und weinte.
»Wie unglücklich bin ich!« stammelte er. »Mein Gott, wie unglücklich!«
Und seine Freude machte Platz der gewohnten Langweile und dem Gefühl eines unwiederbringlichen Verlustes.
Inhaltsverzeichnis
Übersetzt von Alexander Eliasberg
Wolodja, ein siebzehnjähriger, unschöner, kränklicher und schüchterner Junge saß an einem Sonntag, gegen fünf Uhr nachmittags in einer Gartenlaube an der Schumichinschen Landwohnung und langweilte sich. Seine wenig lustigen Gedanken bewegten sich in drei Richtungen. Erstens, hatte er morgen, Montag ein Examen in der Mathematik; er wußte, daß ihm, wenn er die schriftliche Aufgabe nicht machen würde, die Relegation bevorstand, da er in der sechsten Klasse schon einmal sitzengeblieben war und dreieinviertel als Jahresnote in der Algebra hatte. Zweitens, bereitete der Aufenthalt bei den Schumichins, der reichen Familie mit Prätentionen auf Aristokratismus, unaufhörliche Schmerzen seinem Ehrgeize. Ihm schien es, daß Frau Schumichin und ihre Nichten ihn und seine Mutter als arme Verwandte und Schmarotzer ansahen, daß sie seine Mama wenig achteten und über sie lachten. Einmal hatte er zufällig gehört, wie Frau Schumichin ihrer Kusine Anna Fjodorowna auf der Veranda sagte, daß seine Mama sich noch immer um jeden Preis jugendlich und schön machen wolle, daß sie ihre Kartenverluste niemals bezahle und eine Vorliebe für fremdes Schuhwerk und fremde Zigaretten habe. Wolodja flehte seine Mutter tagtäglich an, die Schumichins nicht mehr zu besuchen; er schilderte ihr die traurige Rolle, die sie bei diesen Herrschaften spielte, suchte sie zu überreden, wurde zuweilen auch grob, aber die leichtsinnige, verhätschelte Mama, die in ihrem Leben schon zwei Vermögen – ihr eigenes und das ihres Mannes – durchgebracht hatte und stets zu den vornehmsten Kreisen tendierte, wollte ihn nicht verstehen, und Wolodja mußte sie zweimal in der Woche auf die ihm verhaßte Landwohnung begleiten.
Drittens, konnte sich der junge Mann für keinen Augenblick von einem sonderbaren unangenehmen Gefühl befreien, das ihm vollkommen neu war ... Ihm kam es vor, daß er in die Kusine der Schumichins, Anna Fjodorowna, die bei ihnen als Gast weilte, verliebt sei. Es war eine lebhafte, immer zum Lachen aufgelegte, etwas laute Dame von etwa dreißig Jahren, gesund, kräftig, rosig, mit rundlichen Schultern, rundem, vollem Kinn und ständigem Lächeln auf den feinen Lippen. Sie war weder hübsch, noch jung, – Wolodja wußte das ganz genau, aber er hatte nicht die Kraft, an sie nicht zu denken und sie nicht anzugaffen, wenn sie beim Krocketspiel ihre rundlichen Schultern zuckte, und den glatten Rücken bewegte, oder wenn sie nach dem langen Lachen und Herumrennen sich in einen Sessel fallen ließ, die Augen schloß, schwer atmete und so tat, als ob ihr etwas den Busen beengte und den Atem nähme. Sie war verheiratet. Ihr Mann, ein solider Architekt, kam einmal in der Woche aufs Land, schlief ausgezeichnet aus und kehrte am nächsten Morgen wieder in die Stadt zurück. Das seltsame Gefühl hatte bei Wolodja damit begonnen, daß er plötzlich einen grundlosen Haß gegen diesen Architekten spürte und sich jedesmal freute, wenn er abreiste.
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