LUNATA
Die Bauern
Die Bauern
Novellen
© 1897 Anton Tschechow
Originaltitel Mužiki
Aus dem Russischen von Korfiz Holm,
Wladimir Czumikow und Alexander Eliasberg
Umschlagbild: Hugo Mühlig Bauern auf dem Feld
© Lunata Berlin 2020
Die Bauern Die Bauern
Gram
Träume
Der Leibjäger
Im Gericht
Elend
Agafja
Das Glück
Gußjew
Die Weiber
Das neue Landhaus
Die Hirtenflöte
Über den Autor
Die Bauern
Der Kellner am Moskauer Restaurant »Slawischer Bazar«, Nikolai Tschikildejew, wurde krank. Seine Füße versagten oft ihren Dienst, so daß er einmal im Korridor stolperte und mit dem Tablett, auf dem er Schinken mit jungen Erbsen trug, hinfiel. Nun mußte er die Stelle aufgeben. Alles Geld, das er und seine Frau besaßen, war für Arzt und Apotheke draufgegangen, er hatte nichts mehr zu leben, langweilte sich auch ohne Arbeit und entschloß sich, in sein heimatliches Dorf zurückzukehren. Daheim würde er die Krankheit leichter tragen und auch billiger leben können; nicht umsonst heißt es, daß zu Hause selbst die Wände helfen.
Er kam in Schukowo gegen Abend an. In der Erinnerung erschien ihm sein heimatliches Nest so licht, heimlich und bequem, doch als er jetzt ins Haus trat, mußte er erschrecken: so finster, eng und schmutzig war es darin. Seine Frau Olga und seine Tochter Sascha blickten erstaunt und verständnislos den großen schmutzigen Ofen an, der beinahe die halbe Stube einnahm und vor Ruß und Fliegen ganz schwarz war. Die vielen Fliegen! Der Ofen stand schief, auch die Balken der Wände lagen schief, und es schien, daß das Haus jeden Augenblick einstürzen müsse. An der Vorderwand neben den Heiligenbildern waren Flaschenetiketten und Zeitungsfetzen angeklebt: sie sollten Bilder ersetzen. Diese Armut! Von den Erwachsenen war niemand zu Hause, alle waren beim Mähen. Auf dem Ofen saß ein Mädchen von etwa acht Jahren, mit weißem Flachskopf, ungewaschen und gleichgültig; sie blickte die Eintretenden nicht einmal an. An der Ofengabel rieb sich eine weiße Katze.
»Miez, Miez!« lockte Sascha. »Miez!«
»Sie hört nichts,« sagte das Mädchen. »Sie ist taub.«
»Warum?«
»So. Man hat sie einmal durchgeprügelt.«
Nikolai und Olga begriffen auf den ersten Blick, was hier für ein Leben war, sagten aber nichts; schweigend luden sie ihre Bündel auf dem Boden ab und traten schweigend auf die Straße. Ihr Haus war das drittletzte und sah ärmer und älter als alle anderen aus; auch das nächste war nicht besser; dafür hatte das letzte ein eisernes Dach und Vorhänge an den Fenstern. Dieses stand ohne Zaun abseits von den anderen, und darin befand sich eine Wirtschaft. Alle Häuser standen in einer Reihe, und das ganze stille und verträumte Dörfchen mit den Weiden, Holunderbüschen und Ebereschen, die aus den Höfen hervorlugten, bot einen angenehmen Anblick.
Hinter den Bauernhöfen fiel der Boden steil zum Flusse ab, und im Lehm des Abhanges waren hie und da große Steine zu sehen. Um diese Steine und die von den Töpfern gegrabenen Löcher herum wanden sich Fußwege, lagen Haufen brauner und roter Geschirrscherben, und unten breitete sich eine weite hellgrüne, schon abgemähte Wiese, auf der die Dorfherde weidete. Der sich schlängelnde, von herrlichen lockigen Birken umsäumte Fluß lag eine Werst vom Dorfe entfernt, und am anderen Ufer war wieder eine weite Wiese mit einer Herde und langen Zügen weißer Gänse zu sehen; dann kam wieder ebenso wie diesseits ein steiler Abhang, und oben lag ein anderes Dorf mit einer fünftürmigen Kirche und einem etwas abseits liegenden Herrenhaus.
»Schön habt ihr's hier!« sagte Olga, sich beim Anblick der Kirche bekreuzend. »So schön und frei, mein Gott!«
In diesem Augenblick begann man zur Abendmesse zu läuten (es war Sonnabend). Zwei kleine Mädchen, die unten einen Eimer mit Wasser schleppten, blickten auf die Kirche zurück und lauschten den Glocken.
»Um diese Stunde beginnen im Slawischen Bazar die Diners,« sagte Nikolai verträumt.
Nikolai und Olga saßen am Rande des Abhanges und sahen, wie die Sonne unterging, wie der goldene und blutrote Himmel sich im Flusse und in den Fenstern der Kirche spiegelte und die ganze Luft erfüllte, die so mild, still und unsagbar rein war, wie sie es in Moskau niemals ist. Und als die Sonne sich gesenkt hatte, die Herde brüllend und blökend vorbeigezogen war und die Gänse vom anderen Ufer zurückkamen, wurde alles still, das milde Licht in der Luft erlosch, und die Abenddämmerung senkte sich schnell herab.
Indessen kamen die Eltern Nikolais heim; sie waren beide mager, gebückt und zahnlos und vom gleichen Wuchs. Auch die Weiber – die Schwägerinnen Marja und Fjokla, die beim Gutsbesitzer am anderen Ufer arbeiteten, kamen nach Hause. Marja, die Frau des Bruders Kirjak, hatte sechs Kinder, und Fjokla, die Frau des Bruders Denis, der beim Militär war, hatte ihrer zwei. Als Nikolai in die Stube trat und die ganze Familie, alle diese großen und kleinen Körper sah, die sich auf den Pritschen, in den Wiegen und in allen Ecken regten, als er sah, mit welcher Gier der Alte und die Weiber das Schwarzbrot aßen, das sie vorher in Wasser tunkten, begriff er, daß es gar keinen Sinn gehabt hatte, krank, ohne Geld und dazu noch mit der Familie herzukommen – gar keinen Sinn!
»Und wo ist Bruder Kirjak?« fragte er nach der Begrüßung.
»Er dient bei einem Kaufmann als Waldhüter,« antwortete der Vater. »Ist kein übler Mensch, trinkt aber viel.«
»Ist kein Verdiener!« versetzte die Alte mit weinerlicher Stimme. »Es ist ein Unglück mit unseren Männern: sie bringen nichts ins Haus, schleppen aber alles aus dem Haus. Kirjak trinkt, und auch der Alte, – was soll ich's verschweigen? – kennt den Weg zur Schenke. Die Himmelskönigin zürnt uns wohl.«
Den Gästen zu Ehren setzte man den Samowar auf. Der Tee roch nach Fischen, der Zucker war angenagt und grau, und über das Geschirr und das Brot liefen Schwaben; es war so ekelhaft, den Tee zu trinken, und auch die Unterhaltung war ekelhaft: man sprach nur von der Armut und den Krankheiten. Kaum hatte man die erste Tasse getrunken, als vom Hofe her ein lautes gedehntes Schreien erklang:
»Ma–arja!«
»Es wird wohl Kirjak sein,« sagte der Alte. »Wenn man vom Wolfe spricht ...«
Alle verstummten. Etwas später erklang der gleiche rohe und gedehnte Schrei, der von unter der Erde zu kommen schien, wieder:
»Ma–arja!«
Marja, die ältere Schwiegertochter wurde blaß und drückte sich an den Ofen, und es war so seltsam zu sehen, wie das Gesicht dieser breitschultrigen, starken, unschönen Frau sich vor Angst verzerrte. Ihre Tochter, das Mädchen, das auf dem Ofen gesessen hatte und so gleichgültig schien, fing plötzlich laut zu weinen an.
»Was heulst du, du Cholera?« schrie sie Fjokla an, ein hübsches, ebenso starkes und breitschultriges Weib. »Er wird dich doch nicht umbringen!«
Nikolai erfuhr vom Alten, daß Marja sich fürchtete, mit Kirjak im Walde zusammenzuleben, und daß er, wenn er betrunken war, immer herkam, um sie zu holen, und dabei großen Skandal machte und sie erbarmungslos prügelte.
»Ma–arja!« erklang es dicht vor der Türe.
»Rettet mich, ihr Lieben, um Christi willen!« lallte Marja. Sie atmete dabei so, wie wenn man sie in sehr kaltes Wasser tauchte. »Rettet mich, ihr Lieben ...«
Alle Kinder, die in der Stube waren, begannen zu heulen, und auch Sascha fing zu weinen an. Nun ertönte ein trunkenes Husten, und in die Stube trat ein großer, schwarzbärtiger Mann in Pelzmütze; da sein Gesicht im trüben Scheine des Lämpchens nicht zu sehen war, machte er einen sehr schrecklichen Eindruck. Es war Kirjak. Er ging auf seine Frau zu, holte mit der Faust aus und schlug sie ins Gesicht; sie aber gab keinen Ton von sich, war vom Schlage wie betäubt und hockte sich nur hin; aus ihrer Nase kam sofort Blut.
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