Brahma-Glinskij (so heißt er auf dem Theater, in seinem Paß figuriert der Name Gußjkow) ging zum Fenster, steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute auf die Straße hinaus. Vor seinen Augen breitete sich ein großer freier Platz, von einem grauen Zaun umgeben, an dem sich ein ganzer Wald von vorjährigen Klettenstauden entlang zog. Hinter dem freien Platz sah man eine dunkle, verfallene Fabrik mit dicht vernagelten Fenstern. Um den Schornstein zog eine verspätete Dohle ihre Kreise. Ueber dies ganze langweilige, unbelebte Bild legte sich schon langsam die Abenddämmerung.
»Nach Hause will ich!« hörte der jugendliche Liebhaber.
»Wohin? Nach Hause?«
»Nach Wjasma ... in meine Heimat... .«
»Bis Wjasma sind's fünfzehnhundert Werst... .« seufzte Brahma-Glinskij und trommelte auf den Scheiben. »Was willst du denn in Wjasma?«
»Dort möchte ich sterben... .«
»Aha, das fehlte grade! Was du dir ausdenkst! Zum erstenmal im Leben ist er krank, und gleich bildet er sich ein, jetzt ist der Tod da... . Nein, Freundchen, so einen Büffel wie dich kriegt keine Cholera klein. Hundert Jahre wirst du mindestens... . Was tut dir denn weh?«
»Weh tut mir nichts, aber ich fühl' es... .«
»Nichts fühlst du. Das ist alles nur überschüssige Gesundheit. Die Kräfte rumoren in dir. Du solltest dich tüchtig bekneipen, so saufen, weißt du, daß deine ganze Natur sich umdreht. Der Suff ist was wunderbar Erfrischendes... . Weißt du noch, wie du dich in Rostow am Don vollgenommen hattest? Herr, du mein Gott, ich denke mit Schrecken zurück! Das Fäßchen mit dem Branntwein konnten Sascha und ich zu zweit mit Mühe hereinschleppen, und du trankst es allein aus, und dann ließt du noch Rum holen... . Du warst so voll, daß du mit einem Sack Teufel fingst und eine Gaslaterne mit der Wurzel ausrissest. Weißt du noch? Und dann gingst du noch, Griechen verprügeln... .«
Unter dem Einfluß so angenehmer Erinnerungen hellte sich Tschipzows Gesicht ein wenig auf, und seine Augen fingen zu blitzen an.
»Aber weißt du noch, wie ich den Direktor Sawoitin durchgehauen habe?« murmelte er und hob den Kopf. »Aber das ist ja nicht der Rede wert! Dreiunddreißig Theaterdirektoren hab' ich in meinem Leben verhauen, und was so Leute zweiter Güte angeht, da weiß ich selbst nicht mehr, wieviel. Und was für Direktoren hab' ich gehauen! Kerle, wo der Wind Angst hatte, sie anzublasen! Zwei berühmte Schriftsteller hab' ich durchgehauen, und einen Kunstmaler!«
»Warum weinst du denn?«
»In Chersson hab' ich einen Gaul mit der bloßen Faust erschlagen. Und in Taganrog überfielen mich mal in der Nacht Strolche, fünfzehn Stück. Ich nahm ihnen einfach die Mützen weg, und sie liefen hinter mir her und baten: ›Gnädiger Herr, gib uns unsere Mützen wieder.‹ Ja, das haben wir alles mitgemacht.«
»Was weinst du denn, Schaf?«
»Aber jetzt: matsch ... Ich fühl's. Nach Wjasma möcht ich!«
Es trat eine Pause ein. Nach einem kurzen Schweigen sprang Tschipzow plötzlich auf und griff nach seiner Mütze. Er sah verwirrt aus.
»Adieu! Ich fahr' nach Wjasma!« sagte er und taumelte.
»Und das Reisegeld?«
»Hm! ... Ich geh' zu Fuß!«
»Du bist ja duselig ...«
Sie sahen einander an, wahrscheinlich, weil in ihren Köpfen auf einmal derselbe Gedanke auftauchte ... Der Gedanke an unübersehbare Felder, unendliche Wälder, Sümpfe.
»Du bist ja übergeschnappt, scheint's!« entschied der jugendliche Liebhaber. »Weißt du was, Freundchen ... Jetzt leg dich vor allen Dingen hin, und dann trink Kognak mit Tee, das treibt den Schweiß heraus. Na, und dann Rizinusöl, selbstverständlich. Wart' mal, wo kriegen wir nur Kognak her?«
Brahma-Glinslij überlegte und beschloß, in den Laden der Frau Zitrinnikow zu gehen und bei ihr wegen des Kredits auf den Busch zu klopfen: vielleicht würde das Frauenzimmer Mitleid haben und ihn auf Borg hergeben! Der jugendliche Liebhaber ging und kehrte nach einer halben Stunde mit einer Flasche Kognak und Rizinusöl zurück. Tschipzow saß nach wie vor unbeweglich auf dem Bett, schwieg und starrte auf den Boden. Das Rizinusöl, das sein Kollege ihm anbot, trank er wie ein Automat, ohne daß es ihm zum Bewußtsein gekommen wäre. Wie ein Automat saß er hernach am Tisch und trank Tee mit Kognak. Mechanisch trank er die ganze Flasche leer und ließ sich von seinem Kollegen zu Bett bringen. Der jugendliche Liebhaber deckte ihn mit der Decke und seinem Mantel zu, empfahl ihm, tüchtig zu schwitzen, und ging.
Die Nacht kam. Tschipzow hatte eine ganze Menge Kognak getrunken, schlafen konnte er aber nicht. Er lag unbeweglich unter seinen Hüllen und schaute zur dunklen Decke hinauf. Dann erblickte er den Mond, der ins Fenster schien, und wandte die Augen von der Decke auf den Trabanten der Erde und lag so mit offenen Augen bis zum Morgen. Am Morgen, um neun, stürmte der Direktor Schukow herein.
»Wie, mein Engel, Sie sind nicht wohl?« gackerte er los und machte eine krause Nase. »Oh, oh! Kann man mit so einer Natur überhaupt unwohl sein? Ob, oh, schämen Sie sich! Und ich hab' mich erschreckt, müssen Sie wissen! Am Ende, hab' ich mir gedacht, hat unser Zwist ihn so mitgenommen? Teuerster, ich hoffe, daß ich es nicht war, der Sie krank gemacht hat! Sehen Sie, und Sie haben mir ja auch, gewissermaßen ... Und außerdem geht's ohne das unter Kollegen mal überhaupt nicht ab. Sie haben mich ja auch geschimpft und ... und sind mit den Fäusten auf mich los, aber ich, ich hab' Sie gern! Bei Gott, ich hab' Sie gern! Ich schätze Sie sehr und hab' Sie gern! Na, sagen Sie doch selbst, warum ich Sie so gern habe? Sie sind mit mir weder verwandt, noch verschwägert oder verheiratet, aber wie ich hörte, Sie wären unwohl, ist es mir durch und durch gegangen, wie ein Messer.«
Schukow erklärte ausführlich seine Zuneigung, dann küßte er ihn, und schließlich ging sein Gefühl ganz mit ihm durch, so daß er hysterisch zu lachen anfing und sogar beabsichtigte, in Ohnmacht zu fallen. Aber es fiel ihm wohl ein, daß er weder bei sich zu Hause noch im Theater war, und so verschob er die Ohnmacht auf eine passendere Gelegenheit und fuhr ab.
Bald nach ihm erschien der erste Held, Adabaschew, ein finsterer, halbblinder Mensch, der durch die Nase sprach ... Er schaute Tschipzow lange an, dachte lange nach und machte dann plötzlich folgende Entdeckung:
»Weißt du was, Misa,« er sagte Misa statt Mischa und gab seinem Gesicht einen geheimnisvollen Ausdruck. »Weißt du was?! Du mußt Rizinusöl einnehmen!!«
Tschipzow schwieg. Er schwieg auch, als ihm der erste Held bald darauf das widerliche Oel in den Mund goß. Zwei Stunden nach Adabaschew trat der Theaterfriseur Jewlampij ins Zimmer, oder, wie ihn die Schauspieler, Gott weiß, weshalb, nannten: Rigoletto. Wie der erste Held schaute er Tschipzow lange an, dann seufzte er wie eine Lokomotive, und begann langsam und bedächtig das Bündel aufzuknoten, das er mitgebracht hatte. In dem Bündel befanden sich etwa zwei Dutzend Schröpfköpfe und einige Fläschchen.
»Hätten Sie mich doch rufen lassen, dann hätte ich Sie längst geschröpft!« sagte er zärtlich und entblößte Tschipzows Brust. »Man darf die Krankheit nicht einreißen lassen!«
Hierauf strich Rigoletto mit der flachen Hand über die breite Brust des Heldenvaters und besäte sie von oben bis unten mit blutsaugenden Schröpfköpfen.
»Ja,« sagte er, während er nach dieser Operation seine von Tschipzows Blute befleckten Instrumente wieder in das Bündel packte. »Hätten Sie nur nach mir geschickt, ich wäre schon gekommen ... Wegen der Bezahlung brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen ... Ich tu's aus Menschlichkeit ... Wo sollen Sie's hernehmen, wenn dieses Ungeheuer keine Gagen zahlen will? Jetzt seien Sie so gut und nehmen Sie diese Tropfen. Sie schmecken sehr gut! Und jetzt trinken Sie, bitte, ein bißchen Oel. Das allerreinste Rizinusöl. So! Prost! Und jetzt, leben Sie wohl ...«
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