»Und die Lüge – die Seele,« ergänzte meine Schwester lachend.
Ich las den Brief noch einmal. In diesem Augenblick kam in die Küche ein Soldat, der uns zweimal in der Woche Tee, Semmeln und Rebhühner, die nach Parfüm rochen; brachte; wir wußten nicht, von wem. Ich hatte keine Arbeit und saß tagelang zu Hause; derjenige, der uns das alles schickte, wußte offenbar, daß wir Not litten.
Ich hörte, wie meine Schwester lustig lachend mit dem Soldaten sprach. Später aß sie im Liegen eine Semmel und sagte zu mir:
»Als du nicht länger in Stellung bleiben wolltest und Maler wurdest, wußten wir, Anjuta Blagowo und ich, schon gleich am Anfang, daß du recht hattest, aber wir scheuten uns, es laut auszusprechen. Sag' einmal, was ist es, was den Menschen abhält, seine Gedanken auszusprechen? Nimm zum Beispiel diese Anjuta Blagowo. Sie liebt dich, sie verehrt dich, sie weiß, daß du im Rechte bist; sie liebt auch mich wie eine Schwester und weiß, daß ich im Rechte bin; im innersten Herzen beneidet sie mich sogar, aber etwas hält sie davon ab, zu uns zu kommen; sie meidet uns, sie fürchtet uns.«
Meine Schwester faltete ihre Hände auf der Brust und sagte begeistert:
»Wenn du nur wüßtest, wie sehr sie dich liebt! Diese Liebe hat sie nur mir allein gestanden, und auch das nur im Dunkeln, ganz leise. Manchmal führte sie mich in eine dunkle Allee und flüsterte mir zu, wie teuer du ihr seist. Du wirst es sehen, sie wird niemals heiraten, weil sie dich liebt. Tut sie dir nicht leid?«
»Ja.«
»Sie hat uns auch diese Semmeln geschickt. Es ist wirklich lächerlich, warum verheimlicht sie es? Auch ich war lächerlich und dumm gewesen, nun bin ich von dort weggegangen und habe vor niemand mehr Angst. Ich denke und sage, was ich will und bin glücklich. Als ich noch zu Hause wohnte, hatte ich keine Ahnung von Glück, jetzt würde ich aber auch nicht mit einer Königin tauschen.«
Nun kam Doktor Blagowo. Er hatte sein Doktordiplom bekommen und ruhte jetzt in unserer Stadt bei seinem Vater aus. Er sagte, daß er bald wieder nach Petersburg gehen wolle, um sich mit den Schutzimpfungen gegen Typhus und, ich glaube, auch gegen die Cholera zu befassen; er wollte auch noch ins Ausland gehen, um sich zu vervollkommnen und später einen Lehrstuhl zu bekommen. Den Militärdienst hatte er aufgegeben und trug nun ein bequemes Cheviotjackett, weite Hosen und prachtvolle Krawatten. Meine Schwester war von seinen Krawattennadeln, Manschettenknöpfen und vom roten Seidentuch, das er aus Koketterie in der vorderen Rocktasche trug, entzückt. Einmal zählten wir aus Langweile alle seine Anzüge auf, die wir kannten, und es waren ihrer mindestens zehn. Es war klar, daß er meine Schwester immer noch liebte, aber er hatte kein einziges Mal, nicht einmal im Scherz gesagt, daß er sie nach Petersburg oder ins Ausland mitnehmen wolle, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, was aus ihr, wenn sie am Leben bliebe, und was aus ihrem Kinde werden würde. Sie aber träumte ohne Ende und dachte nie ernsthaft an die Zukunft; sie sagte, er könne verreisen, wohin er wolle, er dürfe sie sogar verlassen, wenn er nur selbst glücklich sei; ihr aber genüge schon das, was gewesen.
Wenn er zu uns kam, untersuchte er sie sehr eingehend und verlangte, daß sie in seiner Gegenwart Milch mit irgendwelchen Tropfen trinke. Auch heute tat er es. Er untersuchte sie und zwang sie ein Glas Milch zu trinken, und dann roch es in unserem Zimmer nach Kreosol.
»Das ist vernünftig,« sagte er, ihr das Glas aus der Hand nehmend. »Du sollst nicht viel sprechen, du aber plauderst in der letzten Zeit wie eine Elster. Sei, bitte, still.«
Sie lachte. Dann ging er in das Zimmer Rettichs, bei dem ich saß, und klopfte mir freundlich auf die Schulter.
»Nun, wie geht's, Alter?« fragte er, sich über den Kranken beugend.
»Euer Hochwohlgeboren ...« sagte Rettig, leise die Lippen bewegend: »Euer Hochwohlgeboren, ich erlaube mir zu bemerken ... wir alle stehen in Gottes Hand, wir alle müssen sterben ... Erlauben Sie, daß ich die Wahrheit sage ... Euer Hochwohlgeboren, Sie werden nicht ins Himmelreich kommen!«
»Nun, was soll man machen,« scherzte der Doktor, »jemand muß doch auch in die Hölle kommen.«
Plötzlich trübte sich mein Bewußtsein. Es war mir, als sähe ich es im Traume: ich stehe in einer Winternacht auf dem Schlachthofe, und neben mir steht Prokofij, der entsetzlich nach Pfefferschnaps riecht. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen und rieb mir die Augen, und sofort schien es mir wieder, als ginge ich zum Gouverneur, um mich mit ihm auseinanderzusetzen. Aehnliche Zustände habe ich weder früher noch später gehabt, und diese seltsamen, traumartigen Erinnerungen kamen wohl vor von der Ueberanstrengung meines Nervensystems. Ich durchlebte den frühen Morgen auf dem Schlachthofe und die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur und hatte dabei das dunkle Gefühl, daß es nicht die Wirklichkeit war.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich, daß ich nicht mehr zu Hause war, sondern mit dem Doktor auf der Straße unter einer Laterne stand.
»Es ist traurig, traurig,« sagte er, während ihm die Tränen die Wangen herunterliefen. »Sie ist lustig und lacht und hofft, und doch ist ihre Lage hoffnungslos, mein Bester. Ihr Rettich haßt mich und will mir immer zu verstehen geben, daß ich schlecht gegen sie gehandelt habe. Er hat von seinem Standpunkt aus recht, aber ich habe auch meinen eigenen Standpunkt und bedauere in keiner Weise das, was geschehen ist. Wir alle müssen lieben, nicht wahr? Ohne Liebe gibt es kein Leben. Wer die Liebe fürchtet und flieht, der ist nicht frei.«
Allmählich kam er auf andere Themen zu sprechen und redete von der Wissenschaft und von seiner Dissertation, die in Petersburg gut gefallen habe; er sprach mit Begeisterung und dachte gar nicht mehr an meine Schwester, an seinen Kummer und an mich. Das Leben riß ihn mit. Sie hat ihr Amerika und den Ring mit der Inschrift, dachte ich mir, und er – seinen Doktortitel und die wissenschaftliche Karriere; nur ich und meine Schwester sind beim alten geblieben.
Nachdem ich mich von ihm verabschiedet, ging ich an die Laterne und las den Brief noch einmal durch. Es fiel mir so lebhaft ein, wie sie im Frühjahr eines Morgens zu mir auf die Mühle gekommen war und sich mit einem Schafpelz zugedeckt hatte – sie wollte einer einfachen Bäuerin gleichen. Ein anderes Mal, auch das war am frühen Morgen, als wir die Netze aus dem Wasser zogen, fielen auf uns von den Uferweiden große Regentropfen, und wir lachten so herzlich ....
In unserem Hause auf der Großen Adelsstraße war es dunkel. Ich kletterte über den Zaun, wie ich es in früheren Zeiten zu tun pflegte, und ging in die Küche, um mir mein Lämpchen zu holen. In der Küche war niemand; am Ofen summte der Samowar, der auf meinen Vater wartete. Wer mag ihm wohl jetzt den Tee einschenken? fragte ich mich. Ich nahm das Lämpchen, ging in die Hütte, machte mir aus den alten Zeitungen ein Lager zurecht und legte mich hin. Die Haken an den Wänden blickten ernst drein, und ihre Schatten bewegten sich. Es war kalt. Mir war es, als ob gleich meine Schwester kommen und mir das Abendbrot bringen würde, aber ich erinnerte mich, daß sie krank im Hause Rettichs lag, und es kam mir plötzlich sonderbar vor, daß ich über den Zaun geklettert war und hier in der ungeheizten Hütte lag. Mein Bewußtsein war getrübt, und allerlei Unsinn schwebte mir vor den Augen.
Nun klingelt es. Die Geräusche sind mir von Kindheit bekannt: zuerst raschelt der Draht an der Wand, dann ertönt in der Küche ein kurzes, klagendes Lauten. Der Vater ist aus dem Klub heimgekehrt. Ich stand auf und ging in die Küche. Als die Köchin Aksinja mich erblickte, schlug sie die Hände zusammen und fing zu weinen an.
»Liebes Kind!« sagte sie leise. »Mein Teurer! Ach Gott!«
In ihrer Aufregung begann sie an ihrer Schürze zu zerren. Auf der Fensterbank standen große Flaschen mit Beeren und Branntwein. Ich schenkte mir eine Teetasse voll ein und trank sie gierig aus, weil ich sehr durstig war. Aksinja hatte erst eben den Tisch und die Bänke gescheuert, und in der Küche roch es so, wie es in hellen, gemütlichen Küchen bei reinlichen Köchinnen zu riechen pflegt. Dieser Geruch und das Zirpen des Heimchens lockten uns in unseren Kindertagen nach der Küche und weckten in uns den Wunsch, Märchen zu hören und harmlose Kartenspiele zu spielen ...
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