Sie kam aus dem Schlafzimmer im bloßen Hemd mit offenen Haaren und lauschte, auf das dunkle Fenster blickend.
»Da wird jemand erwürgt!« sage sie. »Das fehlte noch gerade.«
Ich nahm mein Gewehr und ging hinaus. Draußen war es stockfinster, und der Wind wehte so stark, daß ich kaum stehen konnte. Ich ging einmal zum Tor und horchte: die Bäume rauschten, der Wind pfiff, und im Garten heulte träge der Hund des blöden Wächters. Hinter dem Tore war eine höllische Finsternis, und am Bahndamm brannte kein einziges Licht. Plötzlich ertönte neben dem Flügel, in dem im vorigen Jahre die Baukanzlei gewesen war, ein halberstickter Schrei:
»Zu Hilfe!«
»Wer ist da?« fragte ich.
Zwei Männer rangen miteinander. Der eine wollte den anderen hinausdrängen, der andere wehrte sich, und beide atmeten schwer.
»Laß los!« sagte der eine, und ich erkannte die Stimme Tscheprakows; er war es, der mit der dünnen Weiberstimme geschrien hatte. »Laß los, Verfluchter, sonst beiße ich dir die Hände blutig!«
Im anderen erkannte ich Moïssej. Ich brachte sie auseinander und schlug dabei Moïssej zweimal ins Gesicht. Er fiel hin, stand wieder auf, und ich schlug ihn noch einmal.
»Er wollte mich umbringen,« stammelte er. »Er hatte sich an die Kommode der Frau Mama herangemacht ... Ich möchte ihn im Flügel einsperren, der Vorsicht halber.«
Tscheprakow war aber betrunken, er erkannte mich nicht und holte immer tief Atem, als wollte er möglichst viel Luft einatmen, um von neuem um Hilfe zu schreien.
Ich ließ sie stehen und kehrte ins Haus zurück. Meine Frau lag schon angekleidet auf dem Bett. Ich erzählte ihr, was sich auf dem Hofe abgespielt, und gestand auch, daß ich Moïssej geschlagen hatte.
»Es ist so schrecklich, auf dem Lande zu wohnen,« sagte sie. »Und so furchtbar lang ist diese Nacht ...«
»Zu Hilfe!« ertönte es nach einer Weile wieder.
»Ich gehe hin und schaffe Ruhe,« sagte ich.
»Nein, sollen sie nur einander die Kehlen durchbeißen,« sagte sie mit Ekel.
Sie blickte auf die Decke und horchte hinaus, und ich saß an ihrer Seite, wagte nicht mit ihr zu sprechen und hatte das Gefühl, als ob es meine Schuld wäre, daß man draußen um Hilfe schrie und daß die Nacht so lang war.
Wir schwiegen, und ich wartete mit Ungeduld auf das erste Morgenlicht. Mascha blickte aber die ganze Zeit so, wie wenn sie aus einer Ohnmacht erwacht wäre und nun staunte, wie sie, das kluge, wohlerzogene, reinliche Wesen in diese elende Provinzeinöde, in diese Gesellschaft unbedeutender, kleinlicher Menschen geraten sei und wie sie sich dermaßen habe vergessen können, um einen dieser Menschen zu lieben und länger als ein halbes Jahr seine Frau zu sein. Mir schien schien es, daß sie keine Unterschiede mehr zwischen mir, Moïssej und Tscheprakow machte; alles vermischte sich für sie in diesem trunkenen, wilden Hilfeschrei – ich, und unsere Ehe, und unsere Wirtschaft, und der Herbstschmutz; und wenn sie seufzte oder sich im Bette wälzte, las ich in ihrem Gesicht: »Ach, wenn doch der Morgen endlich käme!«
Am Morgen fuhr sie ab.
Ich blieb in Dubetschnja noch drei Tage und wartete, ob sie nicht doch noch zurückkommen würde. Dann legte ich alle unsere Sachen in einem der Zimmer zusammen, sperrte es ab und ging in die Stadt. Als ich am Hause des Ingenieurs klingelte, war schon Abend, und in unserer Großen Adelsstraße brannten die Laternen. Pawel sagte mir, daß niemand zu Hause sei: Viktor Iwanowitsch sei nach Petersburg verreist und Maria Viktorowna auf einer Probe bei den Aschogins. Ich erinnere mich noch, mit welcher Aufregung ich zu den Aschogins ging, wie mein Herzschlag stockte, als ich die Treppe hinaufging und lange oben auf dem Treppenabsatz stand, ehe ich es wagte, in diesen Musentempel einzutreten! Im Saale brannten auf dem Tische, auf dem Klavier und auf der Bühne je drei Kerzen, überall drei; die erste Vorstellung war für den Dreizehnten angesetzt, und die erste Probe fand an einem Montag, einem gefürchteten Unglückstag statt. Das war der Kampf gegen die Vorurteile! Alle Liebhaber der Bühnenkunst waren schon versammelt. Die Aelteste, die Mittlere und die Jüngste gingen auf der Bühne auf und ab und lasen ihre Rollen. Abseits von allen stand Rettich, mit der Schläfe gegen die Wand gelehnt, und blickte, in Erwartung der Probe, andächtig auf die Bühne. Alles war genau so wie einst!
Ich ging auf die Dame des Hauses zu, – ich mußte sie doch begrüßen, – aber alle begannen plötzlich zu zischen und mit den Füßen zu stampfen, daß ich leiser auftrete. Es wurde still. Man hob den Deckel des Klaviers, eine Dame setzte sich vor das Instrument und richtete ihre kurzsichtigen Augen auf die Noten, und nun erschien meine Mascha. Sie war schön und elegant, aber von einer eigenen, ganz neuen Schönheit und glich gar nicht jener Mascha, die mich im Frühjahr auf der Mühle besuchte. Sie sang das Lied:
»Warum lieb ich dich so, du strahlende Nacht?«
Seitdem ich sie kannte, hörte ich sie heute zum erstenmal singen. Sie hatte eine schöne, kräftige, volle Stimme, und solange sie sang, hatte ich das Gefühl, als ob ich eine reife, süße, duftende Melone verzehrte. Nun war sie zu Ende, man applaudierte ihr und sie lächelte sehr zufrieden, blätterte in den Noten und nestelte an ihrem Kleid wie ein Vogel, der sich endlich aus der Gefangenschaft befreit hat und in Freiheit sein Gefieder in Ordnung bringt. Ihre Haare waren hinter die Ohren gekämmt, und ihr Gesicht hatte einen unangenehmen Ausdruck, wie wenn sie alle herausforderte oder uns wie die Pferde anschreien wollte: »He, ihr lieben!«
In diesem Augenblick sah sie wohl ihrem Großvater, dem Kutscher sehr ähnlich.
»Auch du bist hier?« fragte sie, mir die Hand reichend. »Hast du gehört, wie ich sang? Wie findest du es?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Es ist sehr gut, daß du hergekommen bist. Heute nacht reise ich für kurze Zeit nach Petersburg. Willst du es mir erlauben?«
Um Mitternacht begleitete ich sie zum Bahnhof. Sie umarmte mich zärtlich, wohl aus Dank dafür, weil ich keine überflüssigen Fragen stellte, und versprach mir zu schreiben. Ich aber drückte und küßte lange ihre Hände, sagte kein Wort und hielt mit Mühe meine Tränen zurück.
Und als sie fort war, blickte ich lange den Lichtern des Zuges nach, liebkoste sie in Gedanken und wiederholte leise vor mich hin:
»Meine liebe Mascha, meine herrliche Mascha ...«
Ich übernachtete in der Vorstadt Makaricha bei der Karpowna, und überzog schon am nächsten Morgen mit Rettich die Möbel bei einem reichen Kaufmann, der seine Tochter mit einem Doktor verheiratete.
Inhaltsverzeichnis
Am Sonntag Nachmittag kam meine Schwester zu mir und trank mit mir Tee.
»Jetzt lese ich sehr viel,« sagte sie, auf die Bücher zeigend, die sie sich auf dem Wege zu mir aus der Stadibibliothek geholt hatte. »Ich bin deiner Frau und Wladimir dankbar, sie haben in mir die Selbsterkenntnis geweckt. Sie haben mich gerettet und es erreicht, daß ich mich als Mensch fühle. Früher konnte ich nachts keinen Schlaf finden, weil mein Kopf voller Sorgen war: ›Ach, wir haben in dieser Woche so viel Zucker verbraucht! Ach, daß die Gurken nur nicht zu salzig werden!‹ Auch jetzt schlafe ich schlecht, aber es sind schon ganz andere Gedanken. Ich ärgere mich, daß ich die Hälfte meines Lebens so dumm, so kleinmütig vertrödelt habe. Ich verachte meine Vergangenheit, ich schäme mich ihrer, den Vater sehe ich aber als meinen Feind an. Oh, wie dankbar bin ich doch deiner Frau! Und Wladimir, was ist das für ein prächtiger Mensch! Sie haben mir die Augen geöffnet.«
»Es ist nicht gut, daß du nachts nicht schläfst,« sagte ich.
»Du glaubst wohl, ich bin krank? Keine Spur! Wladimir hat mich untersucht und gefunden, daß ich vollkommen gesund hin. Es handelt sich aber nicht um die Gesundheit, die ist nicht so wichtig ... Sage mir nur: bin ich im Recht?«
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