Diese Betrachtungen machten mich wirr, und ich wußte nicht, was ich denken sollte.
»Wir waren vom Anfang bis zum Ende aufrichtig,« sagte ich, »und wer aufrichtig ist, der hat auch recht.«
»Wer bestreitet es? Wir waren wohl im Recht, wir haben aber das, worin wir recht hatten, falsch verwirklicht. Vor allen Dingen, waren denn nicht schon unsere äußeren Methoden durch und durch fehlerhaft? Du willst den Menschen nützlich sein, wenn du aber ein Gut kaufst, schneidest du dir von vornherein jede Möglichkeit ab, ihnen irgendwie zu nützen. Ferner: wenn du wie ein Bauer arbeitest, dich kleidest und ißt, so legitimierst du durch deine Autorität diese schwere, plumpe Kleidung, diese schrecklichen Häuser, diese dummen Bärte ... Nehmen wir sogar an, daß du lange, sehr lange, dein ganzes Leben lang arbeitest und schließlich auch einige praktische Resultate erzielst; was bedeuten aber deine Resultate gegen solche Elementarkräfte, wie Roheit, Hunger, Kälte und Entartung? Einen Tropfen im Meere! Hier sind andere, kühnere, raschwirkende, kräftige Kampfmittel vonnöten! Wenn du tatsächlich Nutzen bringen willst, so mußt du den engen Kreis der normalen Tätigkeit aufgeben und dich bemühen, auf die ganze Masse einzuwirken! Vor allen Dingen ist eine laute, energische Predigt notwendig. Warum ist die Kunst, z. B. die Musik so lebenskräftig, so populär und so mächtig? Weil der Musiker oder Sänger gleich auf Tausende von Menschen einwirkt. Die liebe, liebe Kunst!« fuhr sie mit einem träumerischen Blick gen Himmel fort. »Die Kunst gibt uns Flügel und entführt uns weit, weit von hier! Wer des Schmutzes und der kleinlichen Pfenniginteressen überdrüssig geworden ist, wer empört und beleidigt ist, der kann nur im Schönen Ruhe und Befriedigung finden.«
Als wir uns Kurilowka näherten, war das Wetter heiter und freundlich. In einigen Höfen wurde gedroschen, und es roch nach Roggenstroh. Hinter den Zäunen leuchteten hellrote Ebereschen, und alle Bäume, so weit der Blick reichte, waren golden oder rot. Vom Turme tönten die Glocken, man trug die Heiligenbilder in die Schule, und der Chor sang »Heilige Fürbitterin«.« Die Luft war durchsichtig, und die Tauben flogen so hoch!
Der Gottesdienst wurde im Klassenzimmer abgehalten. Dann überreichten die Bauern von Kurilowka Mascha ein Heiligenbild, und die von Dubetschnja – eine große Brezel und ein vergoldetes Salzfaß. Und Mascha weinte.
»Und wenn wir vielleicht ein Wort zu viel gesagt haben, oder es sonst irgendwelche Unannehmlichkeit gab, so verzeihen Sie uns!« sagte ein Greis und verneigte sich vor ihr und vor mir.
Als wir nach Hause fuhren, sah sich Mascha nach der Schule um; das grüne Dach, das ich gestrichen hatte, glänzte in der Sonne und blieb lange sichtbar. Und ich fühlte, daß die Blicke, die Mascha um sich warf, Abschiedsblicke waren.
Inhaltsverzeichnis
Abends fuhr sie in die Stadt.
In der letzten Zeit pflegte sie oft in die Stadt zu fahren und dort zu übernachten. Wenn sie fort war, konnte ich nicht arbeiten; meine Hände wurden auf einmal schwach, unser großer Hof erschien mir als eine langweilige Wüste, der Garten rauschte unfreundlich, und ohne sie waren das Haus, die Bäume und die Pferde für mich nicht mehr »unser«.
Ich ging nicht aus dem Hause, sondern saß immer an ihrem Tisch, neben ihrem Schrank mit den landwirtschaftlichen Büchern, ihren gewesenen Lieblingen, die sie jetzt nicht mehr brauchte und die mich daher so verlegen ansahen. Stundenlang, bis es sieben, acht, neun schlug, bis die schwarze Herbstnacht zum Fenster hereinblickte, besah ich mir irgendeinen alten Handschuh von ihr, oder den Federhalter, mit dem sie immer schrieb, oder ihre kleine Schere; ich tat nichts und war mir dessen vollkommen bewußt, daß ich früher nur darum geackert, gemäht und Holz gehackt hatte, weil sie es so wollte. Und wenn sie mich schickte, einen tiefen Brunnen zu reinigen, wo ich bis an den Gürtel im Wasser stehen mußte, so stiege ich gewiß in den Brunnen hinab, ohne mir zu überlegen, ob das nötig wäre oder nicht. Aber jetzt, wo sie nicht mehr in meiner Nähe war, erschien mir Dubetschnia mit der ganzen Unordnung, mit den ewig klappernden Fensterläden, mit den Tag- und Nachtdieben als ein Chaos, in dem jede Arbeit zwecklos wäre. Was soll ich hier auch arbeiten, was soll ich für die Zukunft sorgen, wenn ich fühle, daß mir der Boden entgleitet, daß meine Rolle hier in Dubetschnja zu Ende ist, mit einem Worte, daß mich das gleiche Schicksal erwartet, das die landwirtschaftlichen Werke ereilt hat? Wie furchtbar waren diese einsamen Stunden in der Nacht, als ich jeden Augenblick erschrocken horchte, ob mir nicht jemand zuriefe, daß ich schon gehen solle. Es tat mir um Dubetschnja leid, nur meine Liebe tat mir leid, für die offenbar auch schon der Herbst gekommen war. Was für ein großes Glück ist es, zu lieben und geliebt zu werden, und wie schrecklich ist es, zu fühlen, daß man von diesem hohen Turm herabstürzt!
Mascha kehrte aus der Stadt am anderen Abend zurück. Sie war über etwas unzufrieden, verheimlichte es aber und fragte nur, warum ich alle Winterfenster eingesetzt hätte; so könne man ja ersticken! Ich nahm zwei Fenster wieder heraus. Wir hatten gar keinen Hunger, setzten uns aber doch hin und aßen Abendbrot.
»Geh, wasch dir die Hände,« sagte meine Frau zu mir. »Du riechst nach Kitt.«
Sie hatte neue illustrierte Zeitschriften aus der Stadt mitgebracht, und nach dem Abendessen sahen wir sie uns zusammen an. Es waren auch Beilagen mit Modebildern und Kleiderschnitten dabei. Mascha sah sie sich nur flüchtig an, legte sie aber beiseite, um sie nachher genauer anzusehen; aber ein Kleid mit einem weiten, glatten Glockenrock und Bauschärmeln interessierte sie, und sie betrachtete es eine Minute ernst und aufmerksam.
»Das ist nicht übel,« sagte sie.
»Ja, das Kleid wird dir gut stehen,« sagte ich: »sogar sehr gut!«
Ich sah gerührt auf dieses Kleid, ich bewunderte das Bild nur, weil es ihr gefiel, und fuhr zärtlich fort:
»Ein herrliches, wunderbares Kleid! Meine herrliche, wunderbare Mascha! Meine teure Mascha!«
Tränen fielen auf das Bild.
»Meine herrliche Mascha ...« stammelte ich: »Meine liebe, teure Mascha ...«
Sie ging schlafen, ich aber saß noch eine Stunde da und besah die Illustrationen.
»Es ist schade, daß du die Fenster wieder herausgenommen hast,« sagte sie aus dem Schlafzimmer. »Ich fürchte, daß es doch kalt werden wird. Wie der Wind heult!«
Ich las unter »Vermischtes« von der Herstellung billiger Tinte und vom größten Diamanten der Welt. Dann kam mir wieder das Modebild mit dem Kleide in die Hand, das ihr so gut gefallen hatte, und ich stellte sie mir auf einem Ball vor, mit einem Fächer in der Hand, mit entblößten Schultern, strahlend schön, mit großem Verständnis für Musik, Kunst und Literatur, und meine eigene Rolle kam mir so kläglich und kurz vor!
Unsere Begegnung und unsere Ehe waren nur eine Episode, wie sie diese lebhafte, reich begabte Frau noch viele in ihrem Leben haben wird. Alles Beste in der Welt stand zu ihrer Verfügung und fiel ihr ganz umsonst zu, selbst die Ideen und die moderne geistige Bewegung bedeuteten ihr nur einen Genuß, eine Abwechslung in ihrem Leben; ich aber war nur der Kutscher, der sie von einem Erlebnis zum anderen gefahren hatte. Jetzt braucht sie mich nicht mehr, sie fliegt aus, und ich bleibe allein.
Wie als Antwort auf meine Gedanken erklang im Hofe der verzweifelte Schrei:
»Zu Hilfe!«
Es war eine dünne Weiberstimme, und der Wind pfiff ebenso dunn im Kamin, als wollte er sie nachahmen. Nach einer halben Minute erklang es wieder durch das Heulen des Windes, aber scheinbar vom anderen Ende des Hofes:
»Zu Hilfe!«
»Missail, hörst du es?« fragte leise meine Frau. »Hörst du es?«
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