Langhans wandte sich seinem Kollegen zu. »Was könnt ihr uns noch über das vermeintliche Tatwerkzeug sagen? Gibt es Fingerabdrücke darauf?« Der Kriminalhauptkommissar deutete auf das blanke Edelstahlrohr, das verpackt in einer Plastiktüte auf dem Boden lag.
Vennbrock ging ächzend neben dem Rohr in die Knie. »Oh Mann, wie ihr an meinen Knien hört, bin ich im knackigen Alter angekommen. Ich glaube, es wird langsam Zeit für eine Kur.« Er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und deutete damit auf das eine Ende des Rohrs. »Hier haben wir ein paar Fingerabdrücke gesichert, die als perfekte Illustration in einem Lehrbuch der Daktyloskopie stehen könnten.«
Dannwolf musste schmunzeln, da er wusste, dass die Lehre der Hand- und Fingerabdrücke Vennbrocks besonderes Steckenpferd war. Er wusste, wie gefährlich es war, seinen Kollegen auf dieses Thema zu bringen. Fing der erst einmal an zu dozieren, konnte man ihn kaum noch bremsen. Besser, ihn gar nicht erst in Versuchung zu führen. »Habt ihr sonst noch was gefunden?«
Der Kriminaltechniker zog eine kleine Plastiktüte aus der Tasche und hielt sie ihnen hin. »Das hier!«
Die beiden Kripobeamten mussten sich tief hinunterbeugen, um etwas zu erkennen. »Sieht aus wie eine rosa Faser.« Langhans hatte seine Lesebrille gezückt und den Inhalt der Tüte genau betrachtet.
»Ob sie etwas mit dem Fall zu tun hat, wissen wir natürlich nicht.« Vennbrock steckte die Tüte wieder ein. »Sie hing auch an dem Edelstahlrohr. Ich finde nur, dass Rosa eine Farbe ist, die kaum zu so einer Schrauber-Werkstatt passt.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Werkstatt.
»Dann werden wir mal anfangen, Klinken zu putzen«, verkündete Langhans und sah sich um. »Aber davon scheint es hier in der Gegend ja nicht allzu viele zu geben.« Sein Blick glitt über ein paar Häuser hinweg, die sich in der Nähe des Tatortes befanden. Er hegte aber keine allzu großen Hoffnungen, dass diese Nachbarschaftsbefragungen irgendetwas Brauchbares ergeben würden.
»Wer hat uns eigentlich informiert?«, wollte Siegfried Dannwolf von seinem Kollegen wissen.
Langhans musste nicht in sein Notizbuch schauen, um die Frage zu beantworten. »Das war ein anonymer Anrufer. Männerstimme. Schätzungsweise zwischen dreißig und fünfzig, wie mir die Leitstelle sagte.«
Dannwolf seufzte. »Na, dann wollen wir zuerst mal die Werkstatt durchsuchen und uns dann der Nachbarschaft widmen.«
Langhans nickte nur, steckte sein Notizbuch ein und marschierte in Richtung Rolltor.
Kapitel 7
Ungefähr zur gleichen Zeit hielt ein anderes Fahrzeug der Paderborner Kriminalpolizei vor dem Haus der Familie Herber. »Da wären wir!« Kriminalhauptkommissar Wilfried Marx zog den Schlüssel ab und deutete damit auf das moderne Einfamilienhaus, das etwa in der Mitte der Schorlemer Straße stand. Natalie war seinem Blick gefolgt und sah zu der Einfahrt hinüber, die mit einem modernen Tor versehen war, auf dem die Buchstaben M und H prangten. Es war aus Edelstahl, ebenso wie die Tür daneben, die auf das Grundstück führte, der ins Mauerwerk eingelassene Briefkasten und die Hausnummer.
Marx öffnete die Fahrertür und machte Anstalten auszusteigen, dann hielt er jedoch kurz inne. »Wieder mal eine dieser Aufgaben, die man nicht wirklich gerne macht.«
»Wem sagst du das?« Natalie seufzte tief, dann öffnete auch sie ihre Tür. Gestern hatte sie Kleekamp noch glücklich erzählen können, dass ihr das Überbringen der Todesnachricht bei dem tödlichen Lkw-Unfall erspart geblieben war. Heute hatte das Schicksal sie bereits mit Riesensprüngen eingeholt.
Die beiden Polizisten stiegen aus. »Hast du eigentlich Kinder?«, fragte Marx.
»Ich bin ja noch nicht mal verheiratet«, entgegnete Natalie.
»Na, das hat doch heute gar nichts zu sagen. Ich habe welche, deshalb schlage ich vor, dass ich die Aufgabe übernehme, das Gespräch zu führen.«
»Ich dränge mich garantiert nicht auf, es zu tun.« Natalie nickte dankbar und atmete erleichtert auf.
Als sie vor der Tür standen, bemerkten sie, dass über der Klingelanlage, auf der lediglich der Name Herber stand, eine Kamera montiert war. Ganz schöner Kasten für nur eine Familie, dachte Natalie.
Sekunden nachdem Marx den Klingelknopf gedrückt hatte, leuchteten rund um das Kameraobjektiv kleine LEDs auf. Ohne dass sie angesprochen worden waren, sprang die Tür auf und gewährte ihnen so Zugang zum Grundstück. Wortlos folgte Natalie ihrem Kollegen, der langsam und mit hängenden Schultern über schneeweiße Gehwegplatten auf das Haus zusteuerte. Eigentlich liebte Marx seinen Beruf als Ermittler, aber es gab Tage, da hasste er ihn auch. Immer dann, wenn solche Aufgaben wie jetzt anstanden. Todesnachrichten zu überbringen war nie einfach, aber Eltern über den Tod eines Kindes zu informieren, war wohl die mieseste aller Aufgaben. Einen geliebten Menschen zu verlieren war schon schwer genug, aber das eigene Kind? Der Kriminalbeamte wollte gar nicht daran denken, wie es ihm in dem Fall ergehen würde.
Er erreichte das Podest vor der Haustür und atmete noch einmal tief durch, bevor er sich traute, auf den dortigen Klingelknopf zu drücken. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann hörten sie Schritte und wären in diesem Moment liebend gerne irgendwo anders auf der Welt gewesen als hier.
Hinter der Scheibe neben der Tür erschien ein verweintes Frauengesicht. Marx hielt seine Kriminaldienstmarke hoch und deutete dabei mit dem Kopf zur Tür. Sekunden später wurde sie geöffnet.
»Guten Tag, wir sind von der Kriminalpolizei. Mein Name ist Marx, das hier ist meine Kollegin Börns.«
»Was ist mit ihm?« Die Frau presste sich mit beiden Händen ein zerknülltes Taschentuch vor den Mund. »Ihre Kollegen wollten mir keine Auskunft geben, ich habe schon ein paar Mal angerufen und ihnen von dem Video erzählt.« Sie schluchzte auf und schaute die beiden Polizeibeamten mit einem Blick an, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Natürlich hatte man ihr telefonisch keine Auskunft gegeben, niemand wollte riskieren, dass sie allein war und zusammenklappte, wenn man ihr diese schreckliche Nachricht überbrachte: Ihr Sohn hat sich das Leben genommen. So etwas machte man grundsätzlich nur persönlich, am besten in Begleitung eines Notfallseelsorgers. Aber ausgerechnet heute war keiner zu erreichen gewesen.
»Können wir ins Haus gehen?«, fragte Marx und stellte fest, dass seine Stimme schon wie die eines Beerdigungsunternehmers klang. Pietätvoll leise.
»Sagen Sie schon, was ist mit ihm? Geht es ihm gut?« Sie ergriff ein Revers seines Jacketts und zog daran. »Ich will endlich wissen, was passiert ist!«
Der Kriminalbeamte hatte nicht den Mut ihre Hand zu lösen, sondern ergriff sie lediglich und hielt sie fest.
»Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie.« Er ließ den Satz einen Moment lang im Raum stehen. Schaute sie an, wartete auf ihre Reaktion. Es kam aber keine. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und hingen an seinen Lippen.
»Genau genommen, Frau Herber, habe ich sogar schlechte Nachrichten für Sie, sehr schlechte.«
»Er ist doch nicht etwa …?«
Insgeheim weiß sie es schon, dachte er, sie will es nur nicht wahrhaben.
»Ihr Sohn hatte einen Unfall.« Jetzt kam der Moment, der in so einer Unterhaltung der schwerste war. »Und ich muss Ihnen leider sagen, dass er diesen Unfall nicht überlebt hat.«
Tod. Lebensende. Ende der Zukunft. Ende aller Hoffnungen.
Egal, was man sagte, egal welches Wort man benutzte, es war diese verdammte Endgültigkeit. Keine Umkehr, keine Rückkehr mehr möglich. Für kein Geld und durch keine Macht der Welt.
Nicole Herber blickte ihn noch eine Sekunde lang mit offenem Mund und vor Schreck geweiteten Augen an, dann sackte sie in sich zusammen und nur einen Wimpernschlag später taumelte sie weinend gegen Marx’ Brust. Ohne nachzudenken legte er die Arme um die weinende Frau und hielt sie einfach nur fest. Eine Zeit lang sprach niemand. Natalie stand hilflos daneben und blickte betreten zu Boden.
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