»Aber er hat doch vollkommen richtig gehandelt, als er sich aus dem Einsatz entfernt und sowohl Vanessa als auch mir das Leben gerettet hat.«
Katharina Vogt sah, dass der jungen Polizeibeamtin die Tränen in die Augen stiegen. Auch wenn sie erst kurze Zeit in Paderborn war, so wusste sie doch, was Natalie zusammen mit Jürgen Kleekamp bereits erlebt hatte. »Frau Börns, es kann nicht angehen, dass er sich ohne Absprache aus einem Einsatz entfernt, Sie dazu überredet mitzumachen und sie beide sich in eine Situation begeben, bei der wir normalerweise das Sondereinsatzkommando eingesetzt hätten.«
»Aber der Täter wollte uns doch haben, auf etwas anderes hätte er sich doch vermutlich gar nicht eingelassen.«
Katharina Vogt seufzte. »Frau Börns, ich schätze Sie und Ihre Art, aber glauben Sie nicht, dass die Beurteilung einer solchen Situation anderen Leuten überlassen werden sollte? Dazu gibt es Führungskräfte und Sondereinsatzkommandos wie die Verhandlungsgruppe.« Sie blickte Natalie ernst in die Augen. »Und wer weiß, vielleicht wäre der Täter heute noch am Leben, wenn Herr Kleekamp nicht auf eigene Faust gehandelt hätte.«
Natalie schnappte hörbar nach Luft. »Was wollen Sie denn damit sagen?«, brauste sie auf.
»Dann sagen Sie mir doch bitte, wie und warum der Brand entstanden ist«, verlangte Katharina Vogt.
Natalie senkte betroffen den Blick. »Das kann ich nicht«, musste sie zugeben.
Eine Weile schwiegen beide, dann ergriff die Polizeichefin noch einmal das Wort. »Lassen Sie uns abwarten, ob es ein Disziplinarverfahren geben und wie es ausgehen wird, dann sehen wir weiter.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und streckte Natalie dann die Hand hin. »Ich muss leider los, der nächste Termin wartet schon. Halten Sie die Ohren steif und genießen Sie das schöne Wetter.« Dabei deutete sie mit dem Kopf zum wolkenlosen blauen Paderborner Himmel und ließ sie dann stehen.
Kapitel 6
Polizeiabsperrung stand auf dem Trassierband, mit dem die Grundstückseinfahrt vor der ehemaligen Lkw-Werkstatt abgesperrt war. Die Leiche war gnädig mit einem weißen Laken abgedeckt worden, nachdem die Kriminaltechniker den gesamten Tatort vermessen und fotografiert hatten. Neben den Scherben einer Jägermeisterflasche, die in der Nähe des Toten gelegen hatte, stand eine gelbe Nummerntafel. Eine weitere befand sich an der Stelle, an der ein Edelstahlrohr im Rinnstein gelegen hatte. Die Kopfverletzung an Bohmerts Leiche und die Blutanhaftungen am Rohr legten die Vermutung nahe, dass es sich dabei um die Tatwaffe handelte.
Dr. Julius Bramstege, ein großer, bulliger und Respekt einflößender Mann mit buschigen Augenbrauen wie Theo Weigel, war als zuständiger Rechtsmediziner am Tatort erschienen. Nach seiner ersten Begutachtung hatte er die Vermutung der Beamten geteilt. Er hatte aber auch sofort erkannt, dass der Täter nicht nur einmal auf den Kopf des Opfers eingeschlagen haben musste, sondern mehrmals. »Es sieht fast nach Übertötung aus«, vermutete er. »Wenn das Edelstahlrohr wirklich die Tatwaffe war, wonach es momentan sehr aussieht, dann hätte vermutlich schon ein Schlag damit gereicht, um ihn umzubringen. Doch wenn man sich den Zustand der Leiche ansieht, dann könnte man meinen, dass hier jemand seinen ganzen Frust abgelassen hat.«
Neben der Leiche kniend erhob er sich und drückte dann mit einem gequälten Gesichtsausdruck die Schultern durch. »Zu viel Arbeit am Computer«, erklärte er seine Verspannungen und streckte sich. »Aber jetzt geht es in den Obduktionssaal.« Sein Bulldoggengesicht nahm einen geschäftigen Ausdruck an. Es schien fast so, als freue er sich auf diese Arbeit, die ihn von seinem Rechner wegbrachte. »Meine Herren, Sie kennen ja aus jedem Fernsehkrimi den schönen Satz: Mehr zu all dem, wenn ich ihn auf dem Tisch gehabt habe.« Mit diesen Worten und einem letzten Blick auf den Toten hatte er sich verabschiedet und die Kriminaltechniker und Ermittlungsbeamten allein am Tatort zurückgelassen.
»Übertötung also?«, murmelte Bernhard Vennbrock nachdenklich und kratzte sich am Kinn.
»Was hast du gerade gesagt?« Kriminalhauptkommissar Walter Langhans, der zusammen mit seinem Kollegen Siegfried Dannwolf als Erster zum Tatort gerufen worden war, sah seinen Kollegen von der Spurensicherung fragend an. Er war mit seinen Gedanken einen Moment lang woanders gewesen.
»Ich habe mir überlegt, was für eine Wut in einem stecken muss, um einen Menschen so zuzurichten.« Vennbrock schüttelte den Kopf. Er war nun seit mehr als fünfunddreißig Jahren Kriminaltechniker und hatte schon vieles gesehen, aber er fragte sich immer noch, wie Menschen so grausam sein konnten. Tiere töteten möglicherweise bestialisch, doch sie taten es, um Beute zu machen oder sich zu verteidigen, der Mensch aber hatte für eine solche Tat nur selten existenzielle Gründe. Er konnte zum Mörder werden, von einem Tier konnte man das nicht sagen, wenn man vom Paragrafen 211, Absatz 2 des Strafgesetzbuches ausging, dessen Text er in einer Strafrechtsklausur wortwörtlich hatte wiedergeben müssen und seitdem nicht mehr vergessen hatte.
Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. Herauszufinden, ob und welche Kriterien hier erfüllt waren, würde die Aufgabe der Ermittler sein, um die er sie nicht beneidete. Seine Aufgabe bestand nur darin, alle Spuren so zu sichern, dass man den Täter ermitteln und ihn anschließend auch rechtskräftig verurteilen konnte.
Siegfried Dannwolf war in der Zwischenzeit langsam herumgelaufen und hatte sich den gesamten Tatort genau angesehen. Ab und zu war er stehen geblieben und in die Hocke gegangen, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen.
Er erinnerte sich noch an seine Ausbildung zum Kriminalbeamten, in der er zum ersten Mal von Ernst Gennat gehört hatte, dem legendären Kriminalrat aus Berlin. Im Jahre 1926 hatte er die Zentrale Mordinspektion ins Leben gerufen und galt als Urvater aller Mordkommissionen. Der von seinen Kollegen gern auch »Buddha« oder »der Dicke vom Alexanderplatz« genannte Gennat hatte die sieben Leitlinien aufgestellt, die auch heute noch bei der Bearbeitung eines Tatortes Anwendung fanden. Die erste davon war, sich einen Überblick zu verschaffen, und genau das tat Dannwolf gerade.
»Habt ihr sonst noch irgendwelche Spuren gefunden?«, wollte er von Vennbrock wissen.
»So wie es aussieht, hat es in der ehemaligen Lkw-Werkstatt ein Trinkgelage gegeben.« Er deutete auf die zersplitterte Flasche. »Die Leiche roch auf jeden Fall stark nach Alkohol.«
Dannwolf runzelte die Stirn. »Also mal wieder eine Beziehungstat? Täter und Opfer kennen sich, saufen zusammen, geraten in Streit und dann schlägt der eine dem anderen den Schädel ein?«
»Könnte was dran sein«, stimmte ihm der Kriminaltechniker zu. »Die Werkstatt gehört einem gewissen Sven Bohmert, und wenn die Ausweispapiere, die wir bei der Leiche gefunden haben, auch zu ihr gehören, dann liegt Bohmert da vor uns.« Vennbrock deutete mit dem Kopf zu dem Körper, den ein weißes Tuch verhüllte.
»Na, dann müssen wir nur noch rausfinden, wer sein Saufkumpan oder seine Saufkumpane waren«, vermutete Dannwolf, »und ihn oder sie befragen, was hier abgegangen ist.«
»Oh je, wenn sich überhaupt noch einer an was erinnern kann. Das muss hier ein ganz schönes Gelage gewesen sein, schau dir mal die Flaschenbatterie in der Werkstatt an. Oder das da.« Vennbrock wies auf einen Haufen Erbrochenes.
Siegfried Dannwolf kaute auf seiner Unterlippe, als sich Walter Langhans zu ihnen gesellte. Der hatte zuvor, etwas abseits stehend, ein Gespräch der Pressestelle entgegengenommen. Auf irgendeinem Wege hatten die Medien mal wieder bereits Wind von der Sache bekommen. Langhans blickte zu einigen jungen Leuten hinüber, die außerhalb der Absperrung standen und mit ihren Handys filmten. Zum Glück waren sie erst erschienen, nachdem Sven Bohmerts Leiche abgedeckt worden war. Bilder von dessen eingeschlagenem Schädel in sozialen Medien hätten ihm gerade noch gefehlt. Die Feuerwehr war inzwischen mit Sichtschutzwänden unterwegs, um so den Tatort, aber vor allem den Abtransport der Leiche den neugierigen Blicken der Schaulustigen zu entziehen.
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