Eigentlich waren die beiden wirkliche Freunde, aber seit Markus sich in Melanie verguckt hatte, war er bei diesem Thema sehr dünnhäutig. Dabei hatte er früher über jede lockere und freizügigere Frau heftig hergezogen. Obwohl seine Melanie sehr locker und sehr freizügig war, so stand sie für ihn doch plötzlich über allen anderen und jede Kritik an ihr war so etwas wie eine Gotteslästerung. Wäre er nüchtern gewesen und hätte ein paar Minuten nachgedacht, dann hätte er sich eingestehen müssen, dass sein Kumpel nicht ganz Unrecht hatte. Melanie legte in Bezug auf Sex tatsächlich mehr Wert auf Quantität, als auf Qualität. Doch voll mit Bier und hochprozentigem Kräuterschnaps war er weder in der Lage, das alles sachlich zu sehen, noch sich zu beherrschen.
»Was ist nun, du Spacke?« Er öffnete die Tür und wankte in die Einfahrt. Seine Wut steigerte sich noch, als er sah, dass er sich bei dem Sturz die Hose aufgerissen hatte.
Sein Kumpel Sven, ebenfalls auf die Beine gekommen, torkelte soeben hinter ihm aus der Werkstatt. »Mensch, hör doch mal zu …«, setzte er an, kam aber nicht weiter, weil Markus ihm mit dem Edelstahlrohr in den Magen schlug, mit dem sie normalerweise das große Tor offen hielten. Sven krümmte sich zusammen, riss die Hände vor den Bauch und ging augenblicklich zu Boden. Noch im Fallen begann er zu würgen und übergab sich.
Erschrocken taumelte Markus zurück und ließ das Rohr los, das mit schepperndem Tönen die schräge Einfahrt hinunterrollte und im Rinnstein liegen blieb. Fassungslos sah er zu Sven herunter, dem auf dem Boden liegend plötzlich Blut aus dem Mund floss.
Verdammt, was hatte er da getan? Mit einem Schlag war er so ernüchtert, dass seine Rage augenblicklich verflog und er sich Vorwürfe machte. Was sollte er jetzt machen? Er hatte noch eine Bewährungsstrafe wegen einer anderen Schlägerei offen, und wenn Sven ihn jetzt wegen dieser Körperverletzung anzeigte, dann saß er womöglich bald im Knast.
Panisch sah er sich um. Anscheinend hatte niemand etwas mitbekommen. Also weg hier und hoffen, dass Sven sich später an nichts erinnern konnte. Einen Moment lang stutzte er. Oder sollte er dafür sorgen, dass Sven sich tatsächlich an nichts mehr erinnern würde? Eine Gehirnerschütterung sollte da ja Wunder wirken. Er sah auf seine schweren Arbeitsschuhe mit den Stahlkappen. Dann fiel ihm das Rohr wieder ein. Leicht schwankend begab er sich zum Rinnstein und wollte es schon aufheben, da schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf.
Kapitel 5
Natalie hatte gerade ihren Wagen abgeschlossen, als sie von hinten angesprochen wurde. Sie drehte sich um und schaute ihrer Chefin, Katharina Vogt, direkt ins Gesicht.
»Hallo, Frau Börns. Na, wie gefällt es Ihnen im Ermittlungsdienst? Ich hoffe, die Arbeit macht Ihnen Spaß.« Die Polizeioberrätin mit den blonden Haaren und den beiden goldenen Sternen auf jeder Schulterklappe, lächelte sie freundlich an. Seit der Versetzung von Polizeioberrat Hartmann war sie die Leiterin der Schutzpolizei, ihr unterstanden alle Wachen und Streifenbeamten. Sie war es auch, die Jürgen Kleekamp vom Dienst suspendiert hatte, nachdem er mit Natalie einen Serienmörder gestellt hatte.
Natalie musste sich schütteln, als sie an die gefährliche Situation dachte, in der sie von der Schusswaffe hatte Gebrauch machen müssen. Dann tauchten in ihrer Erinnerung auch wieder die Flammen auf. Sie sah sie vor ihrem inneren Auge aus dem alten Gebäude schlagen und erlebte noch einmal die bangen Minuten des Wartens, bis Kleekamp unverletzt aus dem Gebäude gestürzt kam. Bis heute wusste sie nicht, wie das Gebäude hatte in Brand geraten können, doch es war zum Scheiterhaufen für einen unsagbar grausamen Mörder geworden.
Nach diesem spektakulären Einsatz war Kleekamp suspendiert und sie war aus fürsorglichen Gründen, wie man es höflich formuliert hatte, vorübergehend zur Kripo versetzt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Ermittlungsverfahren gegen sie beide eingeleitet, dessen Ausgang bis heute noch offen war. Natalie blickte ihre Chefin mit gemischten Gefühlen an, weil sie nicht einschätzen konnte, warum sie versetzt worden war, aus Fürsorge oder um sie aus dem Verkehr zu ziehen.
Sie hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und erinnerte sich an Katharina Vogts Frage. »Ist schon okay. Ich sitze zwar lieber auf dem Streifenwagen als im Büro, aber es ist ja mal ganz interessant mit den Kollegen von der Kripo zu arbeiten. Meist schreiben wir ja im Streifendienst nur die Anzeigen, geben sie in den Geschäftsgang und hören dann nichts mehr davon. Jetzt erlebt man mal, wie sie weiterbearbeitet werden.«
Katharina Vogt strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ja, so ein Perspektivwechsel kann sowohl aufschluss- als auch hilfreich sein. Schön, dass es Ihnen gefällt. Könnten Sie sich denn vorstellen, mal dauerhaft in diesem Bereich zu arbeiten?«
Natalie schüttelte den Kopf. »Nein, wie ich schon gesagt habe, ich fahre lieber Streife. Da kann man seine Einsätze abarbeiten und somit abschließen. Jetzt erlebe ich oft, dass viele Vorgänge gleichzeitig bearbeitet und immer wieder hin und her geschoben werden. Mal fehlt noch eine Zeugenaussage, mal will die Staatsanwaltschaft noch eine Frage beantwortet haben, dann fehlen kriminaltechnische Untersuchungsergebnisse. Ich habe den Eindruck, die Bearbeitung mancher Vorgänge dauert ewig. Das wäre nichts für mich.«
Ihre Chefin schmunzelte. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor.«
Natalie nutzte die Gunst dieses Gesprächs. »Wie lange muss ich denn noch da oben bleiben?«
»Die Staatsanwaltschaft hat gestern das Ermittlungsverfahren gegen Sie und ihren Kollegen Kleekamp eingestellt. Man geht bei dem Brand von einem Unglücksfall aus und ihre Schussabgabe wurde aufgrund der Aussagen Ihrer Kollegen als Notwehrhandlung eingestuft.«
Man konnte Natalie die Erleichterung ansehen und den Stein förmlich hören, der ihr vom Herzen fiel. Auch wenn sie sich immer wieder wie ein Mantra heruntergebetet hatte, richtig gehandelt zu haben, so waren ihre Selbstzweifel doch nie ganz verschwunden. Schließlich hatte sie auf einen Menschen geschossen. Die Obduktion der Leiche hatte zwar ergeben, dass er aufgrund des Feuers gestorben war, aber auch das hatte sie nicht wirklich beruhigen können. Ihre einzige Rechtfertigung war, dass der Täter versucht hatte, Jürgen Kleekamp zu töten, und sie diesem damit das Leben gerettet hatte. Als ihr sein Name in den Sinn kam, fiel ihr sofort etwas anderes ein.
»Wenn das so ist, dann wird ja jetzt auch Jürgens Suspendierung aufgehoben, oder?« Das wurde auch höchste Zeit, denn bei ihrem Besuch hatte sie deutlich gespürt, wie sehr er darunter litt.
»Nein, die Suspendierung von Herrn Kleekamp bleibt bestehen, bis die Vorermittlungen des Disziplinarverfahrens abgeschlossen sind.«
»Aber wenn die Staatsanwaltschaft doch schon zu dem Schluss kommt …«
Katharina Vogt unterbrach die junge Polizistin. »Frau Börns, Herr Kleekamp ist nicht wegen der Vorfälle in der Auguste-Viktoria-Klinik suspendiert worden, sondern weil er gegen eine dienstliche Anordnung verstoßen hat. Hier geht es um disziplinar- und nicht um strafrechtliche Aspekte. Erst wenn der Vorermittlungsführer zu einem Ergebnis gekommen ist, werden wir sehen, ob ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Ich glaube aber, ich brauche Ihnen nicht zu erklären, dass so ein Verfahren im Falle Kleekamp aufgrund seiner vielen bereits vorausgegangenen Verfehlungen nur das Ziel der Entlassung haben könnte.«
Dann geht er kaputt, dachte Natalie. Bei den Ausführungen ihrer Chefin war sie kreidebleich geworden. Wenn dieser Fall eintrat, wäre es das Todesurteil für Jürgen. Sie war sicher, dass er sich das Leben nehmen würde, aber nicht mit einer Pistole, sondern mit einer Flasche Schnaps.
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