Fragen Sie sich gerade in schwierigen Situationen gelegentlich: Wer führt hier gerade Regie – Stammhirn oder Großhirn?
Die Tücken der menschlichen Wahrnehmung
Solche Beispiele machen Betrachter oft ratlos: Sehen die Akteure denn nicht, was sie anrichten? Die Umsatzzahlen liegen doch auf dem Tisch; die negativen Presseberichte kann man »eigentlich« ebenso wenig übersehen wie die Flut von Uhren der Billigkonkurrenz im Schaufenster um die Ecke oder auf Branchenmessen. Das führt uns zu einer heiklen Frage.
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Die »objektive« Wahrnehmung der Welt
So lautet der provokative Titel eines Buches von Paul Watzlawick. Der bekannte Kommunikationspsychologe und Philosoph war radikaler »Konstruktivist«. Watzlawicks Antwort auf die Titelfrage lautet schlicht: Die Welt ist nicht, wie sie ist – sie ist das, was wir aus ihr machen. Jeder von uns »konstruiert« sich seine eigene Wirklichkeit. Wir leben in dem sicheren Glauben, die Welt »objektiv« wahrzunehmen. Doch diese lieb gewonnene Wahrheit stellen schon lange nicht mehr nur Kognitionspsychologen infrage, denn menschliche Wahrnehmung ist hochgradig selektiv und subjektiv. Ein ebenso simples wie augenfälliges Beispiel: Sie haben sich gestern Abend entschieden, ein neues Auto der Marke XY zu kaufen – Sie denken nur noch über die Farbe nach. Heute Morgen auf dem Weg ins Büro sehen Sie auf dem Arbeitsweg überall Wagen der Marke XY und vergleichen im Geiste die Farben. Hat sich die Zahl der Autos dieser Marke über Nacht explosionsartig vermehrt? Sicher nicht. Gestern haben Sie sie nur nicht gesehen.
Die Tücken der Wahrnehmung
Ein anderes Beispiel für die Unzuverlässigkeit unserer vermeintlich »objektiven« Wahrnehmung liefert ein Film, der gerne in Vorträgen gezeigt wird: Zwei Teams mit je fünf Personen werfen sich Bälle zu. Ein Team trägt schwarze, das andere weiße T-Shirts. Das Publikum wird gebeten, bei der kurzen Filmsequenz mitzuzählen, wie häufig das weiße Team Ballkontakt hat. Die meisten Anwesenden schauen daraufhin hochkonzentriert zu. Doch nachdem die Ergebnisse der Zählung im Plenum verglichen worden sind, überrascht der Vortragende mit der Frage: »Wer von Ihnen hat den Gorilla gesehen?« Wer den Film noch nicht kennt, reagiert in der Regel ungläubig. Und doch stimmt es: Mitten in der Filmsequenz läuft ein Mann in einem Gorillakostüm durch das Bild, er blickt sogar direkt in die Kamera. Kaum einer der Zuschauer sieht ihn. 5Wie kommt das?
Filterfunktion im Gehirn
Bei der Fülle von Informationen, die ständig auf uns einströmen, kann unser Gehirn gar nicht anders, als radikal auszuwählen. Jeder Bewohner einer Industrienation wird tagtäglich allein mit circa 2000 Werbebotschaften konfrontiert, und das ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was wir an einem ganz normalen Tag zu sehen und zu hören bekommen. Damit wir bei dieser Reiz- und Informationsfülle handlungsfähig bleiben, ist unser Gehirn mit einer erstaunlichen Fähigkeit ausgestattet: Das Gehirn selektiert, bewertet und verarbeitet schon einmal sämtliche eingehenden Informationen, bevor sie in unser Bewusstsein gelangen. Der erste und ganz entscheidende Schritt dieser Vorverarbeitung des Gehirns sind die Wahrnehmungsfilter. Vergleichbar mit einem Spamfilter blendet das Gehirn einen Großteil aller eingehenden Informationen und Reize als unbedeutend aus. Wir nehmen diese Informationen dann nicht mehr (bewusst) wahr. Das Problem bei einem Spamfilter ist aber, dass öfter auch Informationen abgefangen werden, die für uns wichtig sind. Dasselbe passiert bei unserer Wahrnehmung.
Filtertypen
Wahrnehmungsfilter lassen sich grob in drei Gruppen einteilen.
– Biologische Filter: Wir sehen nur einen bestimmten Teil des Lichtspektrums; wir hören nur einen bestimmten Teil der Schallwellen und auch unser Empfinden ist auf einen bestimmten Bereich beschränkt.
– Filter der Vorerfahrungen: Unsere Wahrnehmung wird etwa durch bisherige Erfahrungen und Erlebnisse, Ausbildung und Kenntnisse beeinflusst. Ein Architekt nimmt eine Altstadt anders wahr als ein Polizist, ein Sternekoch beurteilt ein Restaurant anders als ein Fast-Food-Fan, und jemand, der schon einmal aufgrund einer Insolvenz den Arbeitsplatz verloren hat, registriert Warnsignale, die ein unbekümmerter Kollege vermutlich gar nicht sieht.
– Filter des Interesses: Wir nehmen nur wahr, was wir wahrnehmen wollen. Wer sich nicht für Mode interessiert, sieht kaum, was sein Gegenüber trägt (von Extremfällen, also besonders starken Signalen, einmal abgesehen). So zucken viele Männer nur hilflos die Achseln, wenn es am Tag nach einer Feier heißt: »Frau Mai war aber elegant angezogen!«
Veränderung von Informationen
Unter Verzerrungen versteht man die Prozesse der Wahrnehmung, bei denen die ursprüngliche Bedeutung der Information verändert wird. So wird einer Information eine unangemessen hohe oder unangemessen niedrige Bedeutung zugeordnet. Am bekanntesten dürften hier das »Schönreden« oder das »Madigmachen« sein. Aber auch viele rational nicht begründbare Ängste lassen sich den Verzerrungen zuordnen. Verfolgungswahn ist ein Extrembeispiel für dieses Phänomen. Eine der schönsten positiven Wahrnehmungsverzerrungen dagegen ist das Verliebtsein: Zwei Menschen sitzen an einer Bushaltestelle in einer Plattenbausiedlung im Regen, und es ist für sie der schönste Platz der Welt – da muss das Gehirn manchmal richtig was leisten. Aber: Wir können eben nicht nur Beton und Dauerregen ausblenden und uns auf andere Dinge konzentrieren. Manchmal blenden wir auch besorgniserregende Verkaufszahlen oder Umsatzeinbrüche aus. Wer möchte, dass es weitergeht und noch dazu unter Stress steht, sieht möglicherweise Indizien dafür, dass es demnächst wieder besser wird, auch wenn Außenstehende längst Realitätsverlust wittern.
Reparaturen im Gehirn
Was nicht passt, wird passend gemacht. Der menschliche »Wahrnehmungsprozessor« strebt nach Konsistenz, also nach innerer Logik, Stimmigkeit und Struktur. Nun kommt es immer wieder vor, dass Informationen unvollständig oder nicht zusammenhängend ankommen. Sind diese Inkonsistenzen groß genug, werden sie bewusst. Häufig jedoch fällt uns entweder gar nichts auf oder wir versuchen uns zu erinnern: »Wie war das noch …?« Das Gehirn schaltet nun so etwas wie eine »Auto-Repair-Funktion« ein, die Unklarheiten repariert oder beseitigt. Diese Funktion fügt scheinbar passende Bruchstücke ein, wenn Sie zum Beispiel einen Moment lang nicht richtig zugehört haben. Auch Buchstaben oder Worte, die in einem Text (wiederholt) fehlen, werden so ergänzt – mehr noch: Wir machen ohne Probleme aus einem Buchstabensalat eine sinnvolle Botschaft. Oder fällt es Ihnen etwa schwer, den folgenden Text zu verstehen?
Luat enier sidtue an eienr elgnhcsien uvrsnäiett, ist es eagl in wcheler rhnfgeeloie die bstuchbaen in eniem wrot snid. das eniizg whictgie ist, dsas der etrse und der lztete bstuchbae am rtigeichn paltz snid. der rset knan tatol deiuranchnedr sien und man knan es ienrmomch onhe porbelm lseen. das legit daarn, dsas wir nhcit jeedn bstuchbaen aeilln lseen, srednon das wrot als gzanes. *
Echte Information vs. subjektive Veränderung
Besonders kreativ ist unser Gehirn, wenn Zusammenhänge scheinbar unlogisch sind. Hier geht das Gehirn teilweise so weit, Informationen völlig neu zu erschaffen. Im Alltag leistet uns diese Funktion oft gute Dienste. Sie hat nur einen gravierenden Haken: Das Gehirn kennzeichnet nicht, was es verändert oder ergänzt. Wir können also nicht zwischen echter Information und subjektiver Veränderung unterscheiden und könnten Stein und Bein schwören, dass etwas genau so und nicht anders war. Polizeibeamte, die Zeugenbefragungen zum selben Vorfall vergleichen, können ein Lied davon singen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass drei Zeugen den Hergang drei Mal mehr oder weniger unterschiedlich schildern. Ähnliche Erfahrungen machen wir im Alltag, wenn wir beispielsweise einen Familienkrach nachträglich »aufarbeiten«: Fast immer haben die verschiedenen Parteien ganz unterschiedliche Versionen des Ablaufs im Kopf. Die ebenso beliebte wie fruchtlose Frage, wie alles anfing (oder: wer anfing), lässt sich meist nicht mehr beantworten.
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