1. Vergessen, die Landeklappen auszufahren
oder: Wenn der Stress die Regie übernimmt
+ + + 20. August 2008, Flughafen Madrid/Barajas + + + Eine Maschine der Spanair stürzt unmittelbar nach dem Start ab und geht in Flammen auf. 154 Tote + + +
Augenzeugen sprechen von »Hölle« und »Inferno«: Die MD 82 der spanischen Fluggesellschaft Spanair stürzt kurz nach dem Start nur wenige Kilometer vom Flughafen Madrid entfernt in ein Flusstal. 154 der 172 Menschen an Bord kommen in den Flammen um. Zunächst wird über einen Triebwerksausfall spekuliert, doch wenige Wochen später steht die eigentliche Crashursache fest: Die Cockpitcrew hat vergessen, beim Start die Landeklappen auszufahren. Dadurch gewann das Flugzeug nicht ausreichend an Höhe.
Experten verweisen auf einen »technischen Defekt«, denn das für solche Fälle vorgesehene Alarmsystem habe versagt. Doch eigentlich ist das Ausfahren der Klappen bei Start und Landung eine absolute Routineangelegenheit, die jeder Pilot im Schlaf beherrscht. »Klappenfahren« vor einem Start ist für einen Piloten ungefähr so selbstverständlich wie Schuhe anziehen vor dem Verlassen des Hauses für Sie. Wie kann man so etwas »vergessen«?
Hauptursache für Fehler: Stress
Jeder von uns hat schon Fehler gemacht, die idiotisch waren. So dumm, dass wir dankbar waren, wenn uns niemand dabei beobachtet hat. »Menschliches Versagen« ist nicht auf Piloten beschränkt: Wenn kritische Faktoren zusammenkommen, sind wir alle zu erschreckenden Fehlleistungen fähig. Mit etwas Glück geht die Sache glimpflich ab, etwa wenn wir eine rote Ampel »übersehen« oder unsere EC-Karte im Geldautomaten vergessen. In der Fliegerei können solche Fehler verheerende Folgen haben – in Unternehmen ebenfalls. Einer der wichtigsten Faktoren, der zu krassen Fehlleistungen führt, ist schlicht – Stress.
Das Crash-Beispiel: Madrid, August 2008
Funktion der Landeklappen
Um den Spanair-Unfall zu verstehen, muss man wissen, wie ein Flugzeug funktioniert. Vielleicht haben Sie schon einmal beobachtet, wie eine Maschine bei Start oder Landung die Landeklappen ausfährt. Diese Klappen vergrößern die Oberfläche des Flügels und erhöhen dadurch den Auftrieb, der das Flugzeug abheben lässt. Der Auftrieb resultiert letztlich aus zwei Komponenten, nämlich der Oberfläche des Flügels und der Geschwindigkeit der Luft, die den Flügel umströmt. Bei Start und Landung ist das Flugzeug naturgemäß langsamer, und deshalb braucht man die Klappen. Ohne Klappen fliegt der Flieger einfach nicht. Jeder Pilot weiß das, und das »Klappenfahren« ist eine selbstverständliche Routineangelegenheit.
Gründe für einen Startabbruch
Was genau ist damals passiert? Die Crew hatte bereits zwei Startabbrüche hinter sich. Einen Startabbruch können Sie sich so vorstellen: Das Flugzeug steht auf der Piste. Die Motoren drehen hoch, und die Maschine beschleunigt mit Vollgas. Im Cockpit werden währenddessen verschiedene Parameter überprüft. Bestimmte Werte müssen angezeigt werden. Aber es leuchten auch verschiedene Lämpchen auf. Jedes dieser Lämpchen zeigt an, dass das dahinterliegende System einsatzbereit ist. Passt einer dieser Werte nicht oder leuchtet ein Lämpchen nicht rechtzeitig auf, muss der Start abgebrochen werden. In fast allen Fällen hätte der Flug dennoch problemlos durchgeführt werden können, da wirklich nur ein Lämpchen kaputt war. Der Startabbruch ist also normalerweise nur eine Vorsichtsmaßnahme. Nur, von alledem wissen Sie hinten im Passagierraum nichts. Sie merken nur, dass das Flugzeug stark beschleunigt und dann eine Vollbremsung macht und dass es Sie fast aus dem Sitz hebt.
Weitere Hindernisse
Unsere Crew hatte schon zwei Starts wegen blinden Alarms abbrechen müssen. Sie können sich vorstellen, dass die Passagiere inzwischen nicht mehr wirklich entspannt waren. Eine solche Situation wird verschärft durch weitere Faktoren wie »Slots« oder Ruhezeiten der Besatzungen. Ein Slot ist ein Zeitfenster, in dem man zum Beispiel gestartet sein muss. Klappt das nicht, muss ein neuer Slot beantragt werden. Wenn man Pech hat, wartet man dann mehrere Stunden. Aber auch die vorgeschriebenen Ruhezeiten spielen eine Rolle. Die maximalen Dienstzeiten einer Besatzung sind strikt begrenzt. Kann ein Flug etwa wegen einer Verspätung oder verpasster Slots nicht innerhalb der maximalen Dienstzeit zu Ende gebracht werden, muss man für eine neue Besatzung sorgen. Dass das schwierig ist, wenn Sie irgendwo auf der Welt auf einem Flugfeld stehen, können Sie sich sicherlich vorstellen.
Eine brenzlige Situation
Langsam braute sich daher ein explosiver Cocktail zusammen: zwei Fehlversuche; der nächste muss klappen, 162 Passagiere, die langsam rebellisch werden, extremer Zeitdruck, extremer Erfolgsdruck, jede Menge externer Faktoren, die den Druck ins Unermessliche steigen lassen – Stress. All das führte dazu, dass ein unsäglicher Leichtsinnsfehler passierte und die Piloten die Klappen nicht ausgefahren haben. Hätte das Alarmsystem funktioniert, hätte ein Warnton sie auf ihren Fehler aufmerksam gemacht und die Maschine wäre sicher gestartet. Das war aber nicht der Fall. Und auch auf das Abarbeiten der für den Start vorgesehenen Checkliste – das Ausführen sogenannter »Standard Operating Procedures« (SOPs) hatte die Crew leichtsinnig verzichtet.
Ab einem bestimmten Stressniveau unterliegt das Verhalten nicht mehr der rationalen Kontrolle. Es wird reflexartig, unreflektiert und unüberlegt, dafür aber schnell und hektisch.
Ein Unternehmensbeispiel: KfW – eine Bank verschenkt 320 Millionen
Wie schon gesagt: Jeder von uns hat in seinem Leben schon erstaunliche Fehlleistungen vollbracht. Doch was muss passieren, damit ein ganzes Unternehmen »den Kopf« verliert? Was muss passieren, damit eine deutsche Staatsbank wie die KfW 320 Millionen Euro auf Nimmerwiedersehen an ein Pleiteunternehmen überweist? Und was muss passieren, damit ein mittelständisches Unternehmen völlig überhastete und unverhältnismäßige Entscheidungen trifft?
KfW: Pleiten, Pech und Pannen
Die Geschichte der KfW ist bekannt, sie löste im September 2008 einen Sturm der Entrüstung aus: Obwohl die Krise bei der US-Investmentbank Lehman Brothers selbst Gelegenheitszeitungslesern bekannt ist, überweist die KfW noch am 15.09.2008 über 300 Millionen Euro an das insolvente Unternehmen. Niemand hatte die automatische Anweisung des Geldes rechtzeitig gestoppt. Ob wir als Steuerzahler davon jemals etwas wiedersehen würden, war lange Zeit sehr fraglich. Im Dezember 2009 wurde bekannt, dass die KfW 200 Millionen Euro zurückerhält und der Steuerzahler 120 Millionen zahlen muss. Zur Erinnerung: Die KfW stand zu dem Zeitpunkt, als es zu dieser fatalen Überweisung kam, schon seit Monaten in der Kritik, vor allem wegen des Debakels bei der hoch verschuldeten IKB-Bank, an der die KfW mit 43 Prozent beteiligt war. Die KfW musste der IKB mehrfach unter die Arme greifen und wies im Geschäftsjahr 2007 einen Verlust von 6,2 Milliarden Euro auf, den größten Verlust in ihrer Firmengeschichte. Die Vorstandsvorsitzende Ingrid Matthäus-Maier musste erst als Sprecherin der Bank gehen und dann schließlich ganz zurücktreten. Der neue Vorstand Ulrich Schröder war bei der Überweisungspanne erst zwei Wochen im Amt. Man kann sich vorstellen, dass die ehrwürdige KfW in dieser Situation eher einem aufgescheuchten Hühnerhof glich als einer geordneten Institution. Der enorme Druck der Öffentlichkeit, der neue Vorstand, vermutlich die Sorge um Posten und Pöstchen auf allen Ebenen – eigentlich kein Wunder, dass trotz eines Meetings am Freitag vor dem verheerenden »Unfall« am Montag die wirklich entscheidende Entscheidung nicht getroffen wurde: Niemand stoppte die Überweisung.
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