Die Auffahrt zum Landhaus. Das erste Tor. Kopfsteinpflaster. Das zweite Tor. Mein Parkplatz, direkt neben dem Holzstall. Ich habe so viele schöne Erinnerungen an diesen Ort. Überhaupt erinnere ich mich bis heute gern an meine Kindheit. Geborgenheit und Liebe haben diesen Lebensabschnitt geprägt. Dafür bin ich meinen Eltern für immer dankbar. Später wollte ich meinen Kindern diesen Ort genauer zeigen. Irgendwie war es auch mein Haus. Evas Haus. Eva und ich, dachte ich, als ich auf den schwarzen Klingelknopf in der runden Messingscheibe drückte. Frau Müller öffnete. Sie machte immer sonntags hier sauber.
»Emilia du! Mädchen, wie gut du aussiehst als Mutter von drei Kindern. Das sieht man dir wirklich nicht an.«
»Von vier Kindern«, verbesserte ich sie.
»Na ja«, sagte Frau Müller.
Onkel Ernst-Walter und Frau von Grosche gab es als Paar erst seit wenigen Jahren, aber sie traten auf wie ein Ehepaar, das die goldene Hochzeit längst hinter sich hatte. Man sagt ja immer, dass gewisse Eigenschaften mit den Jahren auf den Partner abfärben. Bei meinem Onkel und dieser Sybille von Grosche war es das irritierende Dauerlächeln, was ihrem Auftritt in meinen Augen etwas Groteskes verlieh. Ich stand wie angewurzelt da, als die beiden wie eine Wand auf mich zukamen. Ihr Verhalten hatte Kalkül, das war mir schon klar, und dennoch vergaß ich augenblicklich meine Fragen. Warum er meine Eltern nicht mehr besuchte und anrief und was er denn eigentlich gegen mich hätte.
»Emilchen! Ich darf Sie doch so nennen? Kommen Sie Kindchen, setzen Sie sich doch hier in den Sessel. Abends ist das ja immer Walterchens Sessel, aber wir wollen ja keine strenge Platzordnung. Wie geht es Ihren Kindern?«
Frau von Grosche sprach den ostpreußischen Dialekt, wie ich ihn noch von meiner Oma kannte. Diese Sybille und mein Onkel setzten ihre Freundlichkeit wie scharfe Waffen ein und schafften es, ihr Gegenüber damit in Schach zu halten. Sie sah harmlos und nett aus, als sie mich in den großen, hellen Ohrensessel verfrachtete. Eva lag in einem hellbraunen, hautengen Minikleid ausgestreckt auf dem Sofa. Sie sah so aus, als wollte sie sagen: Das ist meine Wohnung und mein Sofa, und ich war schon da, bevor diese Schabracke in Vaters Leben getreten ist.
»Nimm dir Tee!«, sagte Eva, bevor Sybille von Grosche nur auf die Idee kam. Ich war gut erzogen, stand auf, stellte die zarten Tässchen auseinander, goss den Tee ein und reichte ihn den Anwesenden. Zuletzt stellte ich mir eine Tasse hin, nahm ein Gebäckstück, legte es auf den Untertassenrand und setzte mich wieder auf meinen Platz, in den Ohrensessel. Frau von Grosche guckte zufrieden wie eine alte Gouvernante, die einen Schützling beobachtet. Auch ich musterte Frau von Grosche. Die braunen, bequemen Gesundheitsschuhe, der cremefarbene, wadenlange Rock und die dezent gemusterte Bluse, alles teure, gute Qualität. Ihre kurzgewellten, graumelierten Haare brauchten ständig einen exakten Schnitt wegen der asymmetrischen Frisur. Sie wirkte älter als Onkel Ernst-Walter, und ich hielt es für fragwürdig, dass er sie sexuell begehrenswert finden könnte. Aber da gab es ja viele Unmöglichkeiten. Konnte ich mir meinen Onkel überhaupt als Liebhaber vorstellen? Die kleinen Härchen auf meinen Armen standen zu Berge bei dem Gedanken daran. Und was Eva von ihm erzählt hatte. Was verband die beiden?
Eva hatte sich bis zu der Sofalehne hochgeräkelt und flüsterte mir zu: »Achte mal auf den Schmuck, den sie trägt. Die Heiligtümer von seiner Mutter. So was hat meine Mama nie zu Gesicht bekommen.«
Der Schmuck passte überhaupt nicht zu der Frau, fand ich. Der dicke, mit roten Rubinen besetzte Ring an den prallen, kurzen Fingern und die Kette dazu, die man vielleicht zu einem schlichten, schwarzen Kleid in der Oper tragen konnte. Wenn man denn in die Oper ging. Die beiden sahen eher so aus, als würden sie lange Wanderungen unternehmen, Ottensteiner Hochebene, Teutoburger Wald oder Ähnliches.
Ich war so in ihre Gedanken vertieft, dass ich gar nicht mitbekam, was Onkel Ernst-Walter mich fragte.
»Wie bitte, was sagtest du?«
Er wiederholte etwas genervt: »Emilia, du hast ja von Evas Absicht gehört, in Berlin Lehramt studieren zu wollen. Eva erzählte mir auch, dass ihr es voll unterstützen würdet, dass sie dorthin geht. Warum überredet ihr sie zu einem Schritt, dem sie wahrscheinlich nicht gewachsen ist?«
»Wieso«, sagte ich, » ich überrede Eva zu gar nichts. Sie ist doch alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen.«
»Müssen Sie ihr denn den Umzug machen?«, fragte Frau von Grosche.
»Ich möchte, dass Emi und Henry auch sehen, wo ich lande, und du sparst das Geld für das Umzugsunternehmen, Vater«, meinte Eva.
»Wir sind bloß sehr besorgt um unser liebes Evchen«, bemerkte Frau von Grosche. »Mein Neffe und seine Frau sind auch der Meinung, dass eine Stadt wie Berlin für eine junge, unerfahrene Frau wie Eva viel zu gefährlich ist. Die beiden haben Erfahrung mit großen Städten, und ich kenne es aus Hannover, diese Rauschgiftsüchtigen und Kriminellen. Was sagst du dazu, Walterchen?«
»Ich hatte es bis vor kurzem jeden Tag mit Kriminellen zu tun, und dein Mann, Emilia, der kennt sich doch bestimmt gut mit Rauschgiftsüchtigen aus. Wer da erst mal drin ist und mit solchen Leuten in Kontakt kommt, ich weiß ja nicht, na der ist meist verloren. Du weißt, Eva, du bist von der Seite deiner Mutter her sehr suchtgefährdet. Sie hat sich indirekt mit ihren Schlaftabletten und ihrem Alkoholkonsum umgebracht.«
»Ich weiß, dass Eva kaum Alkohol trinkt. Von Rotwein bekommt sie sogar Pickel. Selbst auf unseren Feten konsumiert sie nichts, weder Rauschgift noch Alkohol.«
Es war mir rausgerutscht, am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen.
»Auf Ihren Feten, wie Sie es nennen, gibt es Rauschgift?«, fragte Frau von Grosche und sah Onkel Ernst-Walter siegessicher dabei an.
»Gelegentlich einen Joint«, sagte ich.
»Oh Mann, wie verstaubt!«, entrüstete sich Eva, »wir leben hier und heute und nicht im Mittelalter oder hinter dem Mond.« Sie verdrehte die Augen.
Wir verabschiedeten uns und gingen in Evas Zimmer. Der offizielle Teil der Audienz war zum Glück beendet. Ich hatte eine Platte von Melanie dabei, die ich auf den Plattenteller legte, dann schmiss ich meine Schuhe in die Ecke und tanzte barfuß im Zimmer herum.
»Was glaubst du«, fragte Eva und hielt mir ein großes Foto ihrer Mutter vors Gesicht. »War es Selbstmord oder nicht?«
»Sie hat zu viele Tabletten genommen«, sagte ich, immer noch umhertänzelnd.
»Wie ist doch egal, die Frage ist doch, ob sie es wollte oder nicht.«
Eva stoppte mich, ich war völlig aus der Puste.
»Eher nicht, ich glaube, sie wollte eigentlich noch leben.«
»Glaube ich auch. Die Selbstmordtheorie ist Quatsch. Ich weiß, dass sie es früher öfter mal versucht hat, aber sie war so lebenslustig. Hier…!«
Eva nahm einen Schuhkarton vom Tisch, in dem sich noch mehr Fotos von Tante Doro befanden. Wir sahen uns die Fotos gemeinsam an. Eva streichelte die schöne, lachende Frau auf den Bildern, die aussah wie sie. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
»Und das habe ich dir auch noch nicht gezeigt.«
Es war ein Brief des Bruders von Onkel Ernst-Walter. Anscheinend war er in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. Dafür bedankte er sich bei seinem Bruder, wünschte ihm weiterhin alles Gute und ein erfolgreiches Leben. Hinten auf dem Brief stand ein Absender. Eine Berliner Adresse.
»Ich werde ihn besuchen, wenn ich in Berlin bin«, sagte Eva.
»Verstehst du das?«
»Bis jetzt noch nicht, aber bald«, sagte Eva entschlossen.
Eva zog sich um, dabei schmiss sie alles auf die Erde, was sie ausgezogen hatte und schlüpfte in ihre Reitsachen.
Wir ritten wieder abwechselnd auf Morgenstern und Herr Wille bekam ordentlich Grund zu meckern. Bevor wir gingen, streichelte und liebkoste Eva die Stute.
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