Als die Sonne bereits tief über dem westlichen Horizont hing, versuchten sie, den ersten Stamm auf den Wehrgang zu hieven. Doch obwohl sie zu viert an den Stricken zerrten, gelang es ihnen nicht. Sie fluchten, schwitzten, stemmten sich in die Seile. Der Baum hob sich kaum eine Handbreit.
»So wird das nichts«, ächzte Theremon schließlich. »Wir vergeuden nur unsere Kraft.«
»Verdammt!«, fluchte Leones und hätte am liebsten nach etwas getreten. Es war sein Einfall gewesen. Sollte die ganze Arbeit nun umsonst gewesen sein? Mithilfe einer Holzkonstruktion und umgelenkten Stricken hätten sie die Pferde einsetzen können, aber für solche Bauten blieb keine Zeit mehr.
»Ich kann sie heben«, merkte Danael vom Turm herab an.
Überrascht blickten alle nach oben.
»Durch Magie?«, fragte Theremon.
Danael nickte.
Düster runzelte der Erste die Stirn. »Das gefällt mir nicht. Du wirst dich erschöpfen, und wir brauchen dich im Kampf. Dank deiner Luftmagie bist du unser bester Schütze.«
»Jeder dieser Stämme wird etliche Pfeile ersetzen, und schießen kann ich auch ohne Magie«, wehrte Danael ab.
Theremon wog die Worte einen Moment lang ab. »Also schön, komm runter! Ich übernehme so lange deinen Posten.«
Zwiegespalten sah Leones ihm nach. Warum hatte er nicht ihn auf den Turm geschickt? Wollte sich der Erste eine Pause gönnen, oder steckte mehr dahinter? Noch nie hatte er Leones für die Wache eingeteilt. Er vertraut mir immer noch nicht. Seit zwei Tagen schufteten sie Seite an Seite, treulose Kameraden setzten sich einfach ab, Danael hatte seine Unschuld bestätigt, und doch hegte Theremon Misstrauen gegen ihn, gegen den nie überführten Verräter. Mürrisch packte Leones wieder mit an. Was beklagte er sich? Der Erste hielt ihn für das, was er war.
Dank Danaels Magie wurden die Stämme so leicht, dass es ihnen gelang, sie auf die drei wichtigsten Wehrgänge zu ziehen und dort an den Mauerkanten abzulegen. Danaels Macht versetzte Leones in Staunen. Aus irgendeinem Grund war er immer davon ausgegangen, dass sein Kamerad nur den eigenen Körper beeinflussen konnte, denn dieses Kunststück beherrschten die meisten Abkömmlinge Heras – von Rhayuna abgesehen, weshalb sie am Boden umso erbitterter kämpfte.
»Das sind sie!«, rief Theremon plötzlich.
Alle erstarrten in der Bewegung. Leones’ Herz hämmerte gegen die Rippen, als wäre er gerannt. Für einen Lidschlag zerrte das volle Gewicht des Baumstamms an den Seilen, dann hatte sich Danael wieder gefangen.
»Macht weiter!«, schimpfte der Erste. »Sie sind noch weit weg. Aber beeilt euch gefälligst!«
Hastig zogen sie den letzten Stamm in Position. Über ihnen loderte das Signalfeuer des Nordturms auf. Auch wenn die Sonne gerade erst unterging, sollte Nehora nicht zu übersehen sein. Theremon hetzte die Stufen herab. »Rhayuna, Südturm!«, schnappte er nur, und Die Faust eilte davon, um das zweite Feuer zu entfachen. »Danael, ruh dich aus! Ihr anderen kommt mit mir. Schafft so viele Körbe herauf, wie ihr könnt!«
Leones stürmte hinter dem Ersten in den Hof hinunter. Gemeinsam mit Keatos klaubte er herumliegende Kiefernzweige auf, stopfte sie in Körbe, und Theremon kleckerte Teer darüber. Sobald ein Brandkorb fertig war, schleppten sie ihn nach oben, allein oder zu zweit, je nach Größe und Schwere. Danael saß auf der Mauer, trank Wasser und stopfte sich blindlings getrocknete Beeren in den Mund, während sein Blick auf den Wald zu Füßen des Hügels gerichtet war.
»Siehst du was?«, keuchte Leones im Vorübereilen.
Danael schüttelte den Kopf.
»Sie müssen jeden Augenblick am Waldrand auftauchen«, prophezeite Theremon und stellte einen letzten Korb neben dem Aufgang zum Turm ab. »Alle Mann auf den Wehrgang! Du auch, Rhayuna! Dort oben nützt du uns nichts mehr.«
Keatos half Danael auf die Beine und musterte ihn besorgt, doch der Sohn Heras wich dem Blick aus. »Es geht schon«, murmelte er leise. Theremon schien nichts davon zu bemerken. Angestrengt starrte er in die Dämmerung hinab.
»Wird das auch funktionieren?« Skeptisch deutete Die Faust in einen der Körbe.
»Mit gewöhnlichem Feuer vielleicht nicht«, gab Leones zu. Aus grünem Holz stieg meistens nur Dampf auf. Die Flammen mussten es trocknen, damit es in Brand geriet. Doch Leones griff sich eine Fackel und beschwor magisches Feuer. Es verbrannte selbst Stein, wenn man ihm lange genug Zeit ließ. Leones konnte die Hitze bereits spüren, er konzentrierte seine ganze Kraft darauf. Nur den talentierteren Magiern war dieser Zauber gegeben, und Leones gehörte zu jenen, denen er gerade so gelang. Erleichtert sah er, wie eine kleine blaue Flamme aus dem Harz sprang. Zischend fraß sie sich ins Holz und breitete sich aus.
»Nicht übel«, befand Die Faust.
Leones grinste, aber es kam ihm vor wie eine Grimasse. Das kleine Flämmchen war nur ein Funken in der anbrechenden Nacht. Um dieses Heer zu besiegen, hätten sie Dutzende besserer Magier gebraucht als ihn. Während er die Scheite in den beiden Feuerschalen in Brand setzte, an denen sie ihre Brandpfeile anzünden wollten, deutete Theremon jäh in die Ferne.
»Dort!«
Leones trat zu ihm hinter den Kiefernstamm, von dem beißender Teergestank aufstieg. Der Wald am Fuß des steinigen Hangs war nur noch ein dunkler Streifen im Grau. Dennoch glaubte auch er, davor schwarze Schemen zu erkennen.
»Unsere letzte Gelegenheit, um ungeschoren zu entkommen«, mahnte Keatos.
Wutschnaubend fuhr Theremon zu ihm herum. »Tod verdammt, Keatos, wenn du dich verpissen willst, dann verpiss dich! Für Feiglinge ist hier kein Platz.«
Der Sohn Ameas presste nur die Lippen aufeinander und legte den ersten Pfeil auf.
»Warum bist du zur Wache gekommen, wenn’s dir nicht ernst damit ist?«, zischte Die Faust.
»Schnauze jetzt!«, blaffte der Erste. »Schussbereit machen! Auf mein Kommando versengt ihr den Schweinefratzen den Pelz!«
Leones steckte die Fackel in eine der Feuerschalen, hob seinen Bogen auf und schob einen Pfeil auf die Sehne. Insgeheim gab er Rhayuna recht. Keatos gehörte nicht hierher, nicht mit ihnen auf diese Mauer. Schon gestern hatte er sie überreden wollen abzuhauen. Warum war er Grenzwächter geworden, wenn er nicht bereit war, sich zu opfern? Leones blickte den Hang hinab und sah die dunklen Gestalten kommen. Er machte sich nichts vor. Er war hier, um zu beweisen, dass er doch kein Verräter war. Über Theremon flüsterte man, dass er Schuld am Tod seines jüngeren Bruders trug. Auch er war also hier, um sich von einem Makel reinzuwaschen.
»Danael schießt zuerst«, raunte der Erste. »Wenn er trifft, haben wir anderen eine Fackel, die unsere Ziele beleuchtet. Los!«
Mit in sich gekehrtem Blick hielt Danael seinen Pfeil an das magische Feuer. Wie schaffte er es, gleichzeitig zu zaubern und zu schießen? Eine Flamme sprang auf den Brandpfeil über, und sofort schwenkte Danael den Bogen wieder gen Westen, zog dabei bereits die Sehne zurück und ließ sie im nächsten Augenblick los. Leones’ Blick folgte dem etwas verwaschenen Leuchten durch das blaugraue Dunkel. Schnell wie eine Sternschnuppe entschwand es in die Tiefe. Einen Moment lang war es verschwunden, von marschierenden Orks verdeckt, doch dann loderten Flammen auf und tauchten Untote in bläuliches Zwielicht.
»Jetzt!«, rief Theremon, der selbst Pfeil und Bogen in den Händen hielt.
Leones drehte sich zur Feuerschale. Gierig erfasste das magische Feuer die öl- und teergetränkte Spitze seines Pfeils. Rasch wandte er sich wieder dem Feind zu, zielte kurz, schoss. In die Wiedergänger war mehr Bewegung gekommen, sie rannten jetzt den Hang herauf. Leones wartete nicht, ob er traf. Seine Finger zogen den nächsten Pfeil aus dem Köcher, legten ihn auf, während er sich wieder den Flammen zuwandte. Das Verdrehen war mühselig, kostete unnötig Zeit und Kraft. Sie hätten mehr Feuerschalen oder Helfer mit Fackeln gebraucht, aber sie waren nur fünf Wächter gegen eine ganze Armee.
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