Beschämt blickten die beiden Reiter zu Boden.
»Ihr habt’s gehört!«, wandte sich ihr Anführer an alle. »Ich will sofort vier Wachen rund um das Lager! Ihr beide werdet ab jetzt die Nachhut übernehmen. Die Kommandantin erwartet, dass wir diese Menschen lebend nach Anvalon bringen, also werden wir genau das tun!«
»Ich werde Euch begleiten«, verkündete Maraya.
»Aber wir wollten doch nach Everea zurück«, protestierte der Sohn Ameas, der sich am Steuer mit ihr abgewechselt hatte.
»Hast du die Lehren des gütigen Alfars von Wey vergessen? Für das Töten der Fische stehen wir beim Sein in besonderer Schuld. Wir dürfen unsere Brüder und Schwestern – und diese Menschen – nicht im Stich lassen. Schon gar nicht, wenn sie einer der unseren angreift.«
»Womöglich stachelt er die anderen wieder gegen uns auf«, fürchtete Drachenauge. »Wir müssen vom Fluss weg. Esst unterwegs! Wir brechen auf!«
* * *
Das Heer der Orks erstreckte sich, so weit Leones’ Blick reichte. Die schwarzen Gestalten bedeckten das Moor wie Ameisen ihren Hügel, nur dass sie sich alle in dieselbe Richtung bewegten. Dieses Mal schenkten sie dem Greifenreiter keine Beachtung. Er flog zu hoch über ihnen, um ein lohnendes Ziel abzugeben, und doch konnte er sie im Sonnenlicht deutlich sehen. Ohne Eile stapften sie voran, aber auch ohne Unterbrechung. Sie kannten weder Hunger noch Müdigkeit, nur den Durst nach Rache. Wahrscheinlich waren sie in der Schlacht am Fallenden Fluss gestorben – hatte zumindest der belesene Perian gesagt. In jenem Krieg, der keinen Namen trug, weil niemand über ihn sprach. Der Krieg, der das Zeitalter der Elfen beendet hatte.
Perian . In bitterem Spott verzog Leones das Gesicht. Noch so ein Verräter . Während sie den ganzen Vormittag Kiefern gefällt und mithilfe der Pferde zur Festung hinaufgezogen hatten, war er davongeschlichen. Ohne Erklärung, ohne ein Wort des Abschieds. Verdammter Feigling! Hatte ihn die Flucht der Tiere so erschreckt? Seit dem Morgen waren sie durch die Wälder am Fuß Nehoras gehetzt. Wolfsrudel, Elche, schweißnasse Hirsche und Rinder, hechelnde Füchse, denen die Zunge bis zum Boden hing. Hatte er sich von ihrer Angst anstecken lassen? Er war ein Sohn Ardas und ein Heiler dazu, vielleicht hatte ihm auch das Töten der Bäume den Rest gegeben, ihm gezeigt, dass er in der Wache seit jeher fehl am Platz war. Auch Leones hatte es geschmerzt, die Axt in die Leiber der jungen Kiefern zu treiben, denen das Sein noch ein jahrhundertelanges Leben zugedacht hatte. Aber um die Wiedergänger zu bekämpfen, brauchten sie so viel Brennbares, wie sie nur auftreiben konnten – und sie brauchten jeden Mann …
Wie eine langsam ansteigende Flut überschwemmten die Orks nun das wellige Land vor den Ausläufern jener Wälder, die auch die Hügel der Elfenlande bedeckten. Leones lenkte Sturmlöwe noch einmal niedriger über die Reihen der Untoten hinweg. Während sie in Nebel und Dunkelheit alle gleich ausgesehen hatten, entdeckte er nun deutliche Unterschiede. Manche wirkten, als bestünden sie aus dunklem Leder, andere waren aufgeschwemmt wie eingeweichtes Brot und hätten bei jedem Schritt zerfallen müssen, doch sie taten es nicht. Wie in Theroia hielt sie eine rätselhafte Macht zusammen. Dieselbe Macht, die sie immer wieder aufstehen ließ. Schaudernd erinnerte sich Leones an die Wehrlosigkeit, als damals seine Magie zur Neige gegangen war. Wollte er das wirklich noch einmal erleben? Wollte er sein Leben opfern, um ein paar dieser Untoten mit ins Nichts zu nehmen? Oder sollte er es Vedsevia und Perian gleichtun?
Zweifelnd blickte er wieder hinab. Wenn man es nicht besser wusste, sahen die Orks nach erbärmlichen Gegnern aus. Nicht alle trugen die üblichen Lederharnische, viele nicht einmal mehr Gürtel oder Stiefel. Etliche Fäuste umklammerten einen Axtkopf oder eine rostige Klinge ohne Griff, andere hielten nur noch die Stiele einstiger Waffen. So manchem fehlte eine Hand oder ein Arm, oder die Verwesung hatte seinem Körper großflächig zugesetzt. Gelblich verfärbte Knochen ragten aus ihren faulenden Leibern, doch obwohl das ganze Heer so widerlich stank, dass es Leones fast den Magen umdrehte, umschwirrte nicht eine Fliege die Leichen.
Erst als Sturmlöwe wieder an Höhe gewann und es dennoch wärmer wurde, merkte Leones, welche Kälte von den Untoten ausging. Fröstelnd lenkte er den Greif nach Osten zurück. Sie würden sich über die Elfenlande ergießen wie die Flutwelle über die Küste – und sämtliche Dörfer und Städte vernichten. Sie würden nicht ruhen, bis sie jeden niedergemetzelt hatten, selbst die Frauen und Kinder. Betroffen schüttelte Leones den Kopf. Weglaufen war töricht. Es gab kein Entkommen. Aber jeder Ork, den er heute Nacht verbrennen konnte, war ein Untoter weniger, der nach Osten vordrang. Ein Mörder weniger, der die Wehrlosen dort erreichte. Ich werde so viele ins Nichts schicken, dass mich die Seelenfänger im Gewimmel übersehen. Einen Moment lang bereitete ihm die Vorstellung diebische Freude, doch dann erinnerte er sich, dass es nichts nützen würde. Es gab kein Ewiges Licht mehr, in das er sich retten konnte. Egal, was er tat, seine Seele war verloren. Ernüchtert kehrte er nach Nehora zurück. Er war noch immer entschlossen, aber die grimmige Vorfreude wollte sich nicht mehr einstellen.
Als Sturmlöwe in den Hof hinabstieß, scheuten die Pferde und versuchten zu fliehen. Von den Wänden hallte das Klappern ihrer Hufe wider, dass selbst Theremons zornige Stimme darin unterging. Während Leones gereizt von seinem Greif sprang, marschierte Keatos ungerührt zwischen den panischen Tieren hindurch, und wie auf ein geheimes Zeichen hin schlossen sie sich ihm an. Sie äugten zwar weiterhin misstrauisch zu Sturmlöwe herüber, trotteten jedoch hinter Keatos her in die entfernteste Ecke des Hofs und blieben dort stehen. Niemand sonst unter den Kameraden besaß so große Macht über Pferde.
»Wozu sind sie noch hier?«, wollte Leones wissen, als er zu Theremon trat. Das Tor Nehoras war bereits geschlossen, und wenn die Tiere nicht gebraucht wurden, weideten sie für gewöhnlich frei im Wald.
»Haben wir denn noch Zeit für Erklärungen?«, fragte der Erste mit strengem Blick. Vermutlich hatte er seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, weshalb seine Haut grau wie Asche aussah.
»Ja, Erster. Sie werden nicht vor der Abenddämmerung hier sein. Spätestens aber bei Mondaufgang.«
Theremon nickte. »Gut, dann können sie unsere Feuer nicht übersehen.«
Falls solche Kategorien für Untote überhaupt galten. Leones wusste nicht, wie sie ihre Umgebung wahrnahmen. Immerhin besaßen die meisten von ihnen keine Augen mehr. Dennoch entging ihnen scheinbar weniger als so manchem Lebenden.
»Wenn es die Angreifer über die Mauer schaffen, sollen uns die Pferde den Rückzug ermöglichen«, eröffnete ihm der Erste und deutete zu Keatos und Rhayuna hinüber. Die Faust und der Sohn Ameas zurrten eine Plane über einem Haufen Stroh fest, den sie auf der Ladefläche des großen Karrens aus der abgebauten Scheune aufgetürmt hatten. »Das Tor und die Tiere werden unser einziger Weg aus der Falle sein.«
Leones brummte etwas, das Theremon als Zustimmung deuten konnte. Es war beruhigend und seltsam enttäuschend zugleich, dass der Erste keinen Heldentod für sie plante, aber dort draußen rückten zu viele Wiedergänger an, um auf ein Entrinnen zu hoffen.
»Los, komm!« Theremon bedeutete Leones, ihm zu folgen. »An die Arbeit!«
Drei der fünf gefällten Kiefern lagen bereits ohne Äste auf dem Hof. Leones schnappte sich eine Axt und half dem Ersten, auch die verbliebenen Bäume ihrer Kronen zu berauben. Während Danael Wache hielt und Keatos sämtliche Körbe aus den Kellern und Kammern der Festung zusammentrug, holte Die Faust das kleine Teerfass aus der Werkstatt und bestrich die entasteten Stämme mit der klebrigen, schwarzen Masse. Sorgfältig ließ sie jene Stellen frei, an denen sie die Rinde noch berühren mussten. Wer vorhatte, mit Brandpfeilen zu hantieren, sollte besser keinen Teer an den Fingern haben.
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