1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 »Erzähl mehr«, sagte er.
Seine Reaktion überraschte sie. Ava hatte erwartet, dass er es rundheraus ablehnen würde, weil die Summe so viel kleiner war als bei den Aufträgen, die sie gewöhnlich annahmen. Ava erklärte Theresa Ngs Dilemma, und Onkel hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie fertig war, fügte sie hinzu: »Ich fühle mich verpflichtet, ihr heute oder morgen eine Antwort zu geben. Ich möchte nicht, dass sie falschen Erwartungen nachhängt.«
Onkel war so still, dass Ava sich fragte, ob er noch dran war. Dann sagte er: »Die Gesamtsumme beläuft sich auf ungefähr dreißig Millionen, sagst du.«
»Ja, das ist die Zahl, die sie genannt hat.«
»Dreißig Millionen zurückzuholen ist durchaus von Interesse für mich.«
Ava fragte sich, ob er sie richtig verstanden hatte. »Onkel, Theresa hat drei Millionen verloren, nicht dreißig.«
»Ich weiß. Aber all die anderen, die ihr Geld verloren haben – glaubst du nicht, dass sie es auch zurückhaben wollen?«
»Ich bin sicher, dass sie das wollen, aber sie haben sich nicht an uns gewandt.«
»Vielleicht weil sie nicht wissen, wer wir sind.«
Worauf, zum Teufel, will er hinaus? , dachte sie. Es war nicht seine Art, Dinge zu verkomplizieren. »Onkel, ich werde diesen Leuten nicht nachjagen, um einen nach dem anderen zu bitten, uns zu engagieren.«
»Aber es gibt keinen Grund, Theresa Ng daran zu hindern, sie zu kontaktieren, oder? Lass sie die Arbeit übernehmen. Sag ihr, sie soll sich an die Leute wenden und sie dazu bringen, uns ebenfalls zu engagieren, lass sie eine Versammlung einberufen, wenn nötig. Drei Millionen sind für uns nicht von Interesse, aber wenn es ihr gelingt, ein Auftragsvolumen von mindestens zwanzig Millionen zu akquirieren, dann lass uns die Sache übernehmen.«
Das war nicht das, was sie erwartet hatte, und sie brauchte eine Minute, um Onkels Vorschlag zu überdenken. Auf den ersten Blick ergab es Sinn, zumindest wenn sie die Absicht hatte, bei Onkel zu bleiben. Wie konnte sie ihm sagen, dass sie mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache war? Wie konnte sie ihm erzählen, dass sie ernsthaft andere Optionen erwog? Auf keinen Fall während dieses Telefongesprächs , dachte sie. In gar keinem Fall am Telefon . Wenn und falls der Tag kam, an dem sich ihre Wege trennten, dann musste sie ihm das von Angesicht zu Angesicht sagen. »Okay«, stimmte sie zu. »Ich rufe Theresa an und frage sie, ob sie mit diesem Vorschlag einverstanden ist. Wenn ja, gebe ich ihr eine Woche, um die Sache auf die Beine zu stellen. Wie klingt das?«
»Das klingt vernünftig.«
Ava schwieg einen Moment. »Lourdes hat mir von der Lebensmittelvergiftung erzählt«, sagte sie dann so beiläufig wie möglich.
»Das war nichts weiter.«
»Ich finde es ungewöhnlich, dass du das so häufig hast.«
»Ich muss aufhören, dieses Billig-Sashimi zu essen.«
»Daran lag es?«
»Jedes Mal.«
»Du hast Geld genug, um dir tausend Mal am Tag das teuerste Sashimi in Tokio zu bestellen.«
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.«
Sie wusste, dass er damit sein wohlüberlegtes Haushalten mit dem Hongkong-Dollar meinte. »Meine Mutter würde sagen: Da ehrt jemand den Pfennig, während ihm der Taler durch die Finger rinnt!«.
»Deine Mutter kennt eine Menge Binsenweisheiten.«
»Das heißt nicht, dass sie nicht stimmen.«
Er lachte. »Ich werde künftig besser achtgeben.«
Ava legte auf. Sie war beruhigt, was sein Unwohlsein anging, zugleich aber frustriert, weil er nicht gesagt hatte, sie solle den Fall Theresa Ng ablehnen. Wo sie ihm doch die Absage in die Schuhe hatte schieben wollen. Nun würde sie darauf bauen müssen, dass Theresa nicht genügend weitere Klienten zusammenbrachte.
IHRE MUTTER WAR KAUM ERWACHT,als Ava sie anrief. Ihre Stimme klang kehlig, kratzig. »Ich habe bis heute früh um sechs Mah-Jongg gespielt«, sagte Jennie.
»Wie viele Stunden am Stück waren das?«, fragte Ava.
»Nicht so viele. Wir haben um zwei eine Pause eingelegt und sind ins Big Mouth Kee gegangen, um gebratene Nudeln zu essen.«
»Soll ich dich lieber später noch mal anrufen?«
»Worum geht’s?«
»Um Theresa.«
»Nein, nein, lass mal. Erzähl mir jetzt gleich, wie du dich entschieden hast.«
Ava konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter das letzte Mal so erpicht darauf gewesen war, so früh am Morgen über irgendetwas zu reden. »Ich habe mich noch nicht entschieden. Ich habe mit Onkel gesprochen, und er sagt, er habe kein Interesse daran, drei Millionen Dollar nachzujagen.«
»Ava!«
»Warte, Mummy, flipp nicht gleich aus. Es ist nicht so, wie es scheint.«
»Wie ist es dann?«
»Weißt du, uns kostet es gleich viel Geld und Zeit, drei Millionen nachzujagen wie zwanzig oder dreißig Millionen. Onkel hat vorgeschlagen, dass Theresa einige der anderen Leute kontaktiert, die ebenfalls betrogen wurden, und sie dazu bringt, uns ebenfalls zu beauftragen. Wenn wir genügend Leute und eine genügend große Gesamtsumme zusammenkriegen, dann ist er einverstanden, den Auftrag zu übernehmen.«
Ihre Mutter schwieg, und Ava wusste, dass sie innerlich kochte. Ava begriff, dass sie Theresa längst erzählt hatte, dass es beschlossene Sache war, und ihre Worte zurückzunehmen war das Letzte, was ihre Mutter wollte. »Theresa glaubt, dass du den Fall übernommen hast«, gestand Jennie ein.
»Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt, denn ich habe ihr keine Zusage gemacht. Und selbst wenn, bin ich doch Onkel unterstellt, und letztlich trifft er die Entscheidung.« Damit lieferte Ava ihrer Mutter den Vorwand, den sie benutzen konnte.
»Das wird nicht leicht für sie sein, weißt du«, sagte Jennie. »Außerhalb ihrer engeren Familie sind Vietnamesen sehr verschlossen. Selbst wenn sie dich engagieren wollten, würden sie doch nicht wollen, dass alle anderen wissen, wie viel Geld sie investiert und verloren haben.«
»Ich würde das vertraulich behandeln. Wenn es ihr gelingt, sie dazu zu bewegen, uns zu engagieren, würden wir individuelle Verträge mit ihnen abschließen. Sie würden niemandem irgendetwas offenbaren müssen.«
»Ich spreche mit ihr.«
»Das ist die einzige Chance.«
»Das war überflüssig!«, fauchte Jennie.
»Tut mir leid.«
Jennie seufzte. »Mir auch. Sie ist einfach eine so nette Frau, und mir ist wirklich daran gelegen, dass du ihr hilfst.«
Ava spürte, wie sich die Vorboten von Schuldgefühlen anschlichen. »Ich möchte ihr auch helfen. Also rede mit ihr und lass sie weitere Leute an Bord holen. Als ich mit Theresa gesprochen habe, hat sie gesagt, dass sie monatliche Abrechnungen von Emerald Lion bekommen hat. Die anderen müssen bloß die letzte Abrechnung mitbringen, damit ich schwarz auf weiß habe, was man ihnen schuldig ist. Ich brauche außerdem von allen ihre Bankverbindung – Name der Bank, Adresse der Zweigstelle, Kontonummer. Dann sehen wir weiter.«
»Ich wünschte, du würdest keine weiteren Leute in die Sache hineinziehen müssen.«
»Onkel will es so.«
»Und du tust immer, was er will?«
»Ja«, log Ava.
Theresa würde mindestens einige Tage brauchen, um Kontakt zu den anderen Geschädigten aufzunehmen und mit ihnen zu sprechen, und es war keinesfalls sicher, dass sie Ava und Onkel engagieren würden. Dreißig Prozent zu zahlen würde manchen von ihnen schwerfallen, auch wenn, wie Theresa gesagt hatte, siebzig Prozent von etwas besser waren als hundert Prozent von nichts.
Onkel hatte ihr an dem Tag, an dem er sich mit ihr zusammentat, eine grundlegende Wahrheit über seine Klientel vermittelt. »Anfangs sind sie alle immer hocherfreut, dass wir ihnen helfen wollen, und sie sind bereit, fast jede Summe zu zahlen, die wir verlangen. Doch in dem Augenblick, in dem wir das Geld haben, fällt ihnen wieder ein, dass es alles ihnen gehört hat, und dann gönnen sie uns nicht einmal fünf Prozent, geschweige denn dreißig.« Aus dem Grund ließ Onkel das wiederbeschaffte Geld gewöhnlich über ihr eigenes Bankkonto laufen. Auf diese Weise konnte er das Honorar einbehalten, ehe er die Restsumme an die Klienten weiterleitete.
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