4,7 4,7ist der Schlüssel zur ab 4,8 folgenden Gegenüberstellung von „Ihr“ zu „Wir“. Die „Ihr“ ab 4,8 und das „Du“ in 4,7 gehören zusammen: ein fiktives Gegenüber in der Gemeinde, das sich anderen Gemeindegliedern überlegen sehen möchte und größere Macht als andere für sich in Anspruch nimmt. Nach Meinung des Paulus setzt dieses Verhalten voraus, dass Menschen vergessen, dass die guten Gaben, die sie erhalten haben, von Gott geschenkter Reichtum sind (s. 1,4.5; 2,12). Und sie sehen über die Realität hinweg.
4,8 Deswegen fragt er in 4,8kritisch: Seid ihr satt? Seid ihr reich? Die Angeredeten wissen, dass sie weder satt noch reich im Sinne ihrer Gesellschaft sind (s. 1,26–28) und dass es viele Menschen neben ihnen gibt, die unter Hunger, Armut und Gewalt leiden. Die Fragen des Paulus sollen ins Bewusstsein rufen, dass jedes Überlegenheitsverhalten (kauchasthai) unrealistisch und unsolidarisch ist. Das „Wir“ in 4,8–12 ist das „Wir“ der Gemeinde, des Leibes Christi (s. dazu oben Basisinformation nach 2,5). Mit „Ihr“ sind nicht Gegner gemeint, sondern einzelne oder kleine Gruppen in der Gemeinde, die sich zu einem Verhalten verleiten lassen, von dem sie sich mehr Sicherheit versprechen als von der Nähe zu einem Gekreuzigten. In einer von Machtkämpfen und Gewalt gestalteten Gesellschaft sucht hier eine Gemeinde einen Weg zu einer Alternative. Und das ist nicht so einfach, weil die Menschen ein solidarisches Zusammenleben noch nicht kennen und die Strukturen der Gesellschaft es behindern. Paulus spottet in 8b: Es wäre nützlich, wenn ihr schon zur Herrschaft gelangt wäret, dann könnten wir mit euch regieren. Realität ist jedoch: Weder ihr noch wir sind an Herrschaft beteiligt, im Gegenteil (s. 1,26–28). Ob man diese Fragen als Ironie oder gar beißende Ironie bezeichnen soll, 175möchte ich bezweifeln. Eher zeigen sie angesichts der Realität absurde Konsequenzender Konkurrenzkämpfe auf.
4,9 4,9Paulus setzt nun ein erschreckendes Bild 176gegen alle Versuche, sich an Gewaltstrukturen anzupassen: Wir sind von Gott gesandt als die Letzten in der Gesellschaft. Man kann uns mit den Todgeweihten in den Prozessionen der gewalttätigen Massenveranstaltungen Roms vergleichen und identifizieren. Zunächst zu den Einzelheiten in 4,9a: Hier in 4,9a nennt Paulus die „Wir“: „Apostel und Apostelinnen“. Gott hat uns, die Apostel und Apostelinnen, an den Platz der Letzten der Gesellschaft gesetzt (apedeixen) . Hier ist die Vorstellung von Apostolat auf alle bezogen, die von Gott gesandt sind, das Evangelium zu verkünden. Die Boten und Botinnen Gottes, die den Frieden des Gottes Israels für alle Völker der Welt verkünden und ausbreiten, 177hat Gott in der Gesellschaft an den Ort der Letztengesetzt. Das ist ihre Realität und ihr von Gott bestimmter Ort. Apostolat beinhaltet keine Sonderrolle in der Gemeinde. 178Alle Glieder des Leibes Christi haben eine entsprechende Aufgabe für das Evangelium zu erfüllen. Die Beschreibung des gottgegebenen Ortes der Apostel und Apostelinnen in 4,9–13 passt auf alle korinthischen Gemeindeglieder (s. u.). Er ist zugleich Realität und göttliche Bestimmung. An diesem Ort stehen sie als Gottes Gesandte. Damit absolute Klarheit besteht, was das für ein Ort ist, sagt Paulus: Wir sind „Letzte“ wie „die Todgeweihten“ in den Gewaltspielen.
Das seltene Wort „die Todgeweihten“ (epithanatios) 179bezieht sich auf Menschen, die zum Tode verurteilt sind und deren Hinrichtung Teil der öffentlichen Gewaltinszenierungen ist. In den Massenveranstaltungen in Amphitheatern, Theatern und anderen Großveranstaltungsorten wurde häufig als Höhepunkt der Darbietungen die öffentliche Erniedrigung und Ermordung eines Menschen inszeniert. 180Paulus vergleicht sich und seinesgleichen mit diesen Menschen, wahrlich den „Letzten“ in einer auf diktatorischer Gewalt beruhenden Gesellschaft. Die Todgeweihten sind entweder Kriegsgegner oder wegen irgendwelcher Taten, die aus römischer Sicht Verbrechen sind (s. 15,32), zum Tode Verurteilte. In 4,9b begründet Paulus, warum er diesen Vergleich wählt: Er, seinesgleichen und diese „Letzten“ werden öffentlich erniedrigt und verachtet: Sie sind ein „Schauspiel“ (theatron) . Dann benennt er das grauenerregende Publikum: „Die Welt / kosmos , Engel und Menschen“. Er hat das Bild dieses lust- und todesgierigen Publikums von Gewaltspielen vor Augen und sieht mehr als nur eine Menschenansammlung. Er sieht die ganze Welt als mordgierig – und auch mythische Wesen – Engel 181– sind daran beteiligt. In 4,13b kommt Paulus auf dieses Publikum noch einmal zurück.
Gewaltinszenierungenvor Massenpublikum hatten für das römische Reich grundlegende Bedeutung. Sie übten die Gewöhnung an Morde und Erniedrigungen ein: „Die Herren des Kaiserreiches hatten gelernt, sich der einstmals aus religiösen Gründen eingeführten Feste zu bedienen, um desto sicherer die Massen zu beherrschen.“ 182Carcopino 1979 weist zudem zu Recht auf die Alibifunktion dieser Spiele bei faktischer Machtlosigkeit der Menschen hin: „In einer Zeit, in der die Volksversammlungen ruhten und der Senat lediglich nachsprach, was ihm aufgetragen war, konnte sich die Volksmeinung nur in der rauschenden Stimmung der munera und ludi äußern.“ 183Die Menschen sollten mit den Gladiatoren mitfiebern. „Das Volk verrohte, und seinen Rausch erhöhte der Parteigeist, der Menschen immer erfasst, wenn sie einem öffentlichen Wettkampf beiwohnen. Man ergriff für diesen oder jenen Gladiatoren Partei.“ 184Auf diesem Hintergrund wird noch einmal deutlicher, warum Paulus den Konkurrenzkampf innerhalb der Gemeinde kritisiert und die Solidarität mit dem Gekreuzigten und den Gekreuzigten als unvereinbar mit Machtkämpfen ansieht. In Korinth, der römischen Kolonie, waren Gewaltspiele noch häufiger als in anderen Städten und hatten große Relevanz für die Stadtöffentlichkeit. 185
Paulus lenkt den Blick in 4,9 (und 4,13) auf die Hinrichtungsopfer und auf das Publikum. Der folgende Text von Seneca (gestorben 65 n. Chr.) setzt sich ebenfalls mit dem Publikum von Gewaltspielen auseinander, wenn auch aus elitärer Distanz. Seneca setzt voraus, dass er sich von derlei Massenansammlungen auch fernhalten kann. Diese Wahlmöglichkeit dürften wenige Menschen für sich gesehen haben. Der öffentliche Druck teilzunehmen und mitzumachen war enorm. 186Seneca beschreibt eine Mittagsveranstaltung, bei der nicht Gladiatoren, sondern zum Tod verurteilte Verbrecher sich gegenseitig umbringen, bis niemand mehr übrig ist. Dieses Morden sei beim Publikum noch beliebter als Gladiatorenkämpfe, sagt Seneca. Er ist in die Mittagsveranstaltung gegangen, weil er dachte, die Morde fänden nur im Vormittags- und Nachmittagsprogramm statt. Über Mittag erwartete er ein heiteres Zwischenprogramm.
..., je größer die Volksmenge ist, unter die wir uns mischen, desto mehr Gefahr besteht. Nichts aber ist so schädlich für einen guten Charakter, wie sich bei irgendeiner Schaustellung niederzulassen: dann nämlich schleichen sich durch Vermittlung des Vergnügens Fehlhaltungen besonders leicht ein. 3 Was, meinst du, sage ich? Habgieriger kehre ich zurück, ehrgeiziger, genußsüchtiger, nein – grausamer und unmenschlicher, weil ich unter Menschen gewesen bin.
Durch Zufall bin ich in das Mittagsprogramm des Zirkus geraten, Scherze erwartend und Witze und etwas Entspannung, womit sich der Menschen Augen vom Menschenblut erholen: das Gegenteil ist der Fall. Was vorher gekämpft worden ist, war Mitleid; nun läßt man die Mätzchen, und es ist der reine Mord: nichts haben sie, sich zu schützen. Dem Hieb mit ganzem Körper ausgesetzt, schlagen sie niemals vergeblich zu. 4 Das ziehen die meisten den regulären Kampfpaaren und sonst beliebten vor. Warum sollten sie es nicht vorziehen? Nicht Helm, nicht Schild weist ab das Schwert. Wozu Finten? All das ist Verzögerung des Todes. Morgens wirft man den Löwen und Bären Menschen vor, mittags ihren Zuschauern. Mörder werden auf deren Befehl künftigen Mördern vorgeworfen, und den Sieger heben sie für einen weiteren
Читать дальше