»Jep.« Der Mann faltete den weißen Anzug zusammen und warf ihn in eine große Tüte, die an der Küchentür stand. »Frau, Anfang zwanzig, denke ich. Sie wurde mit einer glatten Schnur getötet, wie bei einer Garotte, ungefähr drei Millimeter dick. Tot ist sie seit circa …« Er schaute auf die Uhr. »… anderthalb Stunden. Sie starb ungefähr um halb elf.«
»Vergewaltigt?«
»Sieht nicht so aus. Ich obduziere sie morgen. Dann wissen wir mehr.« Er griff nach einer abgewetzten dunkelbraunen Arzttasche und ging auf den Ausgang zu. »Bis morgen.«
Flemming sah ihm nach. Dann wandte er sich an Dan. »Svend Giersing. Alter Rechtsmediziner, unglaublich tüchtig. Ein Menschenalter lang war er Professor für Rechtsmedizin. Dann hat er sich zurückgezogen, um zu forschen, aber wir haben eine Vereinbarung mit ihm, dass er uns hilft, wenn es um lokale Todesfälle geht.« Er blieb vor der Küchentür stehen. »Wie weit seid ihr? Darf ich reinkommen?«
James Bond kam zu ihnen und schob die Maske von seinem Mund. »Dann musst du dir einen Schutzanzug anziehen. Die Techniker sind noch nicht ganz fertig.« Ein weißer Overall versteckte nun seinen Smoking, ein Haarnetz bedeckte sein braunes kurz geschnittenes Haar. An den Händen trug er dünne Latexhandschuhe, die Schuhe steckten in ein paar hellblauen Plastikfutteralen.
Flemming drehte Dan den Kopf zu. »Dan, das ist Kriminalassistent Frank Janssen. Janssen, das ist mein guter Freund Dan Sommerdahl, der zufällig hier arbeitet. Er kann das Opfer hoffentlich identifizieren.«
Der junge Polizist gab ihm die Hand, während er Dan mit einem forschenden Blick betrachtete. Er sah seinen Chef an.
»Du hast vollkommen recht, Janssen«, erwiderte Flemming auf dessen unausgesprochene Frage. »Aber ich bin mit Dan seit 18.00 Uhr zusammen gewesen, er hat das denkbar beste Alibi.«
Frank lächelte jetzt etwas entspannter und holte Overalls und Handschuhe für Flemming und Dan.
Absurd, dachte Dan. Ich stehe am Tatort eines Mordes, ein Polizist stinkt nach Irish Coffee, der andere trägt einen Smoking. Und jetzt grüßen wir uns auch noch freundlich. Um Gottes willen … In diesem Moment fiel sein Blick durch die offene Küchentür auf Lillianas Leiche, und er vergaß alles, die Ironie der Situation und auch sein eigenes physisches Unbehagen. Er verstand jetzt, warum Kristian Helbjørn gedacht hatte, Lilliana sei übel geworden. Mit abgewandtem Gesicht lag sie halb auf der Seite, den linken Arm über dem Ohr, als versuchte sie, einzuschlafen und irgendeine lärmende Musik auszublenden. Ihr langes dunkelbraunes Haar breitete sich über ihre Schulterblätter aus, sie trug noch immer ein geblümtes Kopftuch.
Als sie um den Körper herumgingen, gab es keinen Zweifel mehr. Die Augen der toten Frau waren noch immer so tiefbraun, dass sie beinahe violett wirkten. Aber hübsch konnte man diese Augen nicht mehr nennen. Wie bei einer Scholle quollen sie aus dem Kopf, und ihr Mund hatte sich in einer grotesken Grimasse geöffnet. Die Zunge stach dick und grau zwischen ihren entblößten Zähnen hervor. Eine blutige Furche schnitt sich rund um ihren Hals, das Blut hatte den Kragen ihres verwaschenen dunkelblauen Sweatshirts bespritzt. Dort, wo Hose und Pullover verrutscht waren, konnte man einen Streifen weißer Haut sehen. Dan bekämpfte den unmittelbaren Drang, ihr das Sweatshirt herunterzuziehen. Plötzlich spürte er, dass er seit Betreten des Raums nicht ein einziges Mal geatmet hatte. Er schnappte mit einem Keuchen nach Luft, das lauter klang, als er es beabsichtigt hatte.
»Ist sie es?«, erkundigte sich Flemming.
»Ja.« Dan ging neben der toten Frau in die Hocke und berührte vorsichtig ihre Wange, bevor Flemming ihn aufhalten konnte. Sie fühlte sich kühl an, aber nicht eiskalt, und sie wirkte noch immer weich. Er hatte geglaubt, eine Leiche sei kalt und steif. Aber das war sie möglicherweise erst nach einigen Stunden. Er blickte zu Flemming auf. »Das ist sie. Lilliana.«
»Und wie heißt sie weiter?«
»Keine Ahnung.« Dan schüttelte den Kopf und erhob sich. »Ich verstehe bloß nicht … Wo ist Benjamin?«
Flemming sah ihn fragend an.
»Der, von dem ich dir erzählt habe. Benjamin ist Lillianas Kollege. Sie arbeiten immer zusammen. Wenn einer von ihnen krank ist, kommt ein Ersatz. Sie sind immer zu zweit.« Er ging zur Spüle und griff nach dem Wasserhahn, doch diesmal gelang es Flemming, ihn zu stoppen.
»Nichts anfassen, Dan. Auch nicht die Toilette oder den Abfluss. Das muss alles erst überprüft werden.« Er ließ Dans Arm los. »Benjamins Nachnamen kennst du vermutlich auch nicht?«
Dan schüttelte den Kopf. Er kannte die Putzkolonne nur als zwei Schatten, die jeden Abend um neun auftauchten. Eigentlich war er sogar ein wenig stolz darauf, dass er immerhin ihre Vornamen kannte. Den meisten anderen in der Firma hatte er damit sicher etwas voraus. »Die Reinigungsfirma wird dir weiterhelfen können«, sagte er. »Sie heißen Schrubberkompanie, ich glaube, die Telefonnummer liegt draußen am Empfang.«
»Kannst du sie holen?«
Dan war erleichtert, dass er Lillianas malträtierte Leiche verlassen durfte. Er ging zum Empfang und setzte sich auf Pernilles Platz hinter dem hohen Tresen. Er kannte ihren Zugangscode zum Computer nicht, hoffte aber, dass sie die Nummer irgendwo ausgedruckt hatte. Bingo! Gleich beim ersten Versuch hatte er Glück. Das kleine schwarze Brett an der Innenseite des Empfangstresens hing voller Merkzettel, alle sorgfältig um ein Illustriertenfoto von George Clooney drapiert. Auf dem obersten Zettel stand deutlich lesbar die Telefonnummer der Reinigungsfirma mit dem so bemüht witzigen Namen. Dan brachte Flemming den Zettel. »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte er.
»Du siehst auch müde aus.« Flemming reichte den Zettel mit der Telefonnummer an Frank Janssen weiter. »Ich rufe dich morgen früh an, Dan.«
»Also, Badminton werde ich morgen bestimmt nicht mit dir spielen können.«
»Ich habe auch nicht unbedingt an Badminton gedacht.« Flemming legte eine Hand auf Dans Schulter. »Ich brauche ein paar Informationen über die Menschen, die hier arbeiten, und wäre froh, wenn du mir dabei helfen könntest.«
Luffe war nicht mehr der Jüngste, aber wenn er mit ihm in den Wald ging, benahm er sich wie ein Welpe. Mit der Schnauze am Boden schoss er hin und her, wobei der lange Schwanz wie ein wild gewordenes Metronom an seinem inzwischen recht fülligen Hinterteil wackelte. Im Moment rannte er den steilsten Hügel der Gegend hinauf, und Dan hastete, so schnell er konnte, hinterher. Als sie oben waren, blieb Dan einen Augenblick stehen, um die Aussicht zu genießen. Von hier aus konnte man das gesamte Zentrum von Christianssund übersehen: den Fjord, der blauschwarz unter einem silbergrauen Novemberhimmel glitzerte; die Marina im westlichen Teil des Hafens, in der die meisten Boote an Land lagen und mit Persenningen in den unterschiedlichsten Farben abgedeckt waren; das Rathaus mit dem charakteristischen Turm; die Fußgängerzone, die sich schnurgerade dahinzog; den alten Stadtkern mit seinen schmalen, verwinkelten Gassen und bunten Häusern. Von hier aus konnte Dan auch sein eigenes Haus sehen. Das neue Schieferdach und die frisch gestrichenen hellgelben Mauern strahlten Kreditwürdigkeit aus, selbst aus dieser Entfernung. Auf dem Dachrücken saß eine Möwe. Ein plötzlicher Windstoß brachte ihn einen Moment aus dem Gleichgewicht, und sofort trat er ein paar Meter vom Rand des Abhangs zurück. Er litt fürchterlich an Höhenangst, von der nur seine engsten Vertrauten wussten. Gegenüber seinen Kollegen und Kunden hätte er nie zugegeben, dass er schon bei einem Film mit einer Verbrecherjagd, zum Beispiel über die Dächer von New York, die Augen schließen musste, weil ihm so schwindlig wurde.
Hinter ihm bellte Luffe kurz und ungeduldig, und Dan riss sich los. Zusammen joggten sie das letzte Stück bis zum Audi. Als Dan hinterm Steuer saß, klingelte sein Handy.
Читать дальше