Marianne reagierte so kühl und professionell, als hätte sie Wache in der Notaufnahme der Psychiatrie. Sie fühlte seinen Puls, setzte sich einen Moment zu ihm und hielt seine Hand; als ihr klar wurde, dass sein Tränenfluss nicht zu stoppen war und sie keinen vernünftigen Kontakt zu ihm bekam, holte sie ihre Arzttasche und nahm eine Spritze, eine Kanüle und einen winzigen Flakon mit einer klaren Flüssigkeit heraus. Als sie die Spritze aufgezogen hatte, hielt sie sie senkrecht und schnipste zweimal hart mit dem Fingernagel daran, damit die Luftblasen aufstiegen. Dann drückte sie ein wenig auf den Stempel, bis ein paar Tropfen herausspritzten. Daraufhin schob sie ihren Mann auf die Seite, zog seine Boxershorts herunter und setzte die Spritze in seine rechte Hinterbacke. Sie verließ das Zimmer, rief in der Agentur an und teilte mit, dass er mindestens ein paar Wochen krank sein würde. Danach telefonierte sie mit dem Ärztehaus und gab Bescheid, dass sie erst nachmittags kommen konnte. Die Helferin sollte versuchen, jene Patienten, die einen dringenden Termin hatten, auf die anderen Ärzte im Haus zu verteilen.
Zurück im Schlafzimmer, legte sie sich neben ihren Mann, hielt seine Hand und redete leise auf ihn ein, bis das Beruhigungsmittel wirkte. Als die Tränen versiegt waren, half sie ihm, auf die Toilette zu gehen, dann begleitete sie ihn zurück ins Bett. An diesem Vormittag lagen sie nebeneinander, ohne viel zu sagen. Nach ein paar Stunden war Dan in einen tiefen Schlaf gefallen, und Marianne lief das kurze Stück über die Gørtlergade, bog links in die Algade und kam zum Rathausmarkt mit dem schönen niedrigen Eckgebäude, in dem sich ihre Praxis befand. Bevor sie sich um ihre Patienten kümmerte, hinterließ sie am Empfang des Ärztehauses eine Nachricht für eine ihrer Partnerinnen, die Psychiaterin Kirsten Loft. Sie wusste, dass eine Spezialistin hinzugezogen werden musste.
Sieben Wochen nach Dans Zusammenbruch saßen sie eines Abends Mitte November mit ihrem besten Freund zusammen, dem Kriminalkommissar Flemming Torp. Sie tranken Irish Coffee, der offene Kamin strahlte Hitzewellen aus. Flemming hatte gerade die Scheidung hinter sich, und nur zu dritt zu sein, war ungewohnt und eigenartig – nach all den Jahren, in denen sie zu viert gewesen waren: im Urlaub, bei Weihnachtsfeiern, beim Badminton. Ihre Kinder waren zusammen aufgewachsen, und seit über zwanzig Jahren hatten sie mindestens einen Abend in der Woche gemeinsam verbracht. Die Lücke, die Flemmings Frau Karin hinterlassen hatte, war noch längst nicht geschlossen, aber das würde sicher noch kommen.
»Freust du dich, bald wieder arbeiten zu können?«, erkundigte sich Flemming und trank einen Schluck des heißen Getränks. Ein kleiner Sahneschnurrbart zog sich über seine Oberlippe, Marianne gab ihm eine Serviette.
Dan zuckte mit den Achseln. »Eigentlich nicht.«
»Wie, du vermisst es nicht?« Flemming tupfte sich die Oberlippe sauber.
»Ganz ehrlich? Nein«, antwortete Dan. »Wenn ich überhaupt wieder bei Kurt & Ko anfange, dann nur wegen des Geldes.«
»Was für ein Unfug!«, ging Marianne dazwischen. »Wenn du keine Lust mehr hast, kannst du doch einfach kündigen. Wir können auch nur von meinem Einkommen leben.«
»Davon leben? Ja, das sicher«, erwiderte Dan. »Aber so gut wie jetzt? Nein.« Er kraulte Luffe im Nacken. Der alte Labrador lehnte am Knie seines Herrchens, ein wenig beleidigt, weil er nicht aufs Sofa durfte. Es war eines von Mariannes eher obskuren Prinzipien: Wenn sie Gäste hatten, musste der Hund auf dem Fußboden bleiben.
»Du könntest auch als Freelancer arbeiten«, sagte sie. »Einen gut dotierten Job würdest du jederzeit bekommen, das weißt du genau. Dann könntest du dir die Arbeit einteilen, damit so etwas nicht noch einmal passiert.«
»Und was ist mit dem Firmenwagen? Und der Rente? Man muss ziemlich schuften, wenn das Einkommen als Freiberufler all das abdecken soll.«
»Wir haben einen ausgezeichneten Wagen, der die meiste Zeit ohnehin nur in der Garage herumsteht und Staub frisst. Und deine Rente ist doch schon jetzt geradezu grotesk hoch«, widersprach sie und griff nach Flemmings Zigaretten. »Darf ich?«
»Hast du nicht aufgehört?« Flemming gab ihr Feuer.
»Ich bin nur eine Party-Raucherin.« Sie lächelte und stieß den Rauch in einem langen Strom aus.
»Ja, und jeder Tag ist ein Fest«, sagte Dan. Er versuchte, munter zu klingen. »Wen willst du damit zum Narren halten?«
»Ach, hör schon auf!« Marianne sah ihn wütend an. »Ich habe das durchaus im Griff.« Ihr gekräuselter, hellbrauner Pony stand in der Luft wie ein Strohdach im Sturm. Darunter blitzten ihre dunklen Augen mit einer gehörigen Portion Eigensinn. Etwas an diesem Blick erinnerte Dan an ein kleines, freches Shetlandpony, aber er wusste aus bitterer Erfahrung, dass er das auf keinen Fall sagen durfte, wenn sie in dieser Stimmung war.
»Na dann«, sagte Flemming und trank den letzten Schluck Kaffee. »Ich muss sehen, dass ich nach Hause komme.«
»Bist du mit dem Wagen da?« Marianne stand ebenfalls auf.
»Zu Fuß. Das tut mir ganz gut.« Flemming klopfte sich auf den kleinen Rettungsring, der sich in den letzten Jahren über seinem Gürtel gebildet hatte. »Herzlichen Dank für das Essen, Marianne. Es war wie immer wunderbar!« Er küsste sie auf die Stirn, und sie hielt einen Augenblick seine Hand, bevor sie ihn glücklich paffend in den Flur begleitete.
»Und du, Dan?« Flemming drehte sich um. »Bist du bald wieder so weit, um dir eine Abreibung beim Badminton zu holen? Den Platz könnten wir gleich morgen früh bekommen.«
Dan wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als Flemmings Handy klingelte. »Mist«, sagte er, nachdem er die Nummer gesehen hatte. »Sieht fast so aus, als wäre mein Arbeitstag noch nicht zu Ende.« Er hob das Handy ans Ohr. »Ja, ich bin’s. Wo, sagst du?« Er warf Dan einen Blick zu. »Das gibt’s doch gar nicht! Ist Giersing auf dem Weg?« Er griff nach seinem Mantel, den Marianne ihm entgegenhielt, aber sein Blick war auf unendlich eingestellt. »Ja, ja sicher, ich komme sofort. He, ich hab keinen Wagen dabei. Lass mich bitte abholen, Gørtlergade 8. Bis gleich.«
Er klappte das Handy zusammen und steckte es in die Tasche. Dann überprüfte er, wie viele Zigaretten er noch in seinem Päckchen hatte, erst danach richtete er den Blick auf seinen Gastgeber, der am Türrahmen lehnte und wartete.
»Bei dir in der Agentur wurde eine Leiche gefunden, Dan«, sagte Flemming endlich. »Eine Frau.«
»Wer?« Dan richtete sich auf.
»Noch haben wir sie nicht identifiziert, so wie es aussieht, ist es eine Putzfrau.«
Dan runzelte die Stirn. »Lilliana?« Er schüttelte den Kopf. »Sie ist jung und stark. Wieso sollte sie plötzlich umfallen und …«
»Sie wurde ermordet, Dan.«
Marianne ging wortlos zu ihrem Mann und nahm seine Hand.
Dan sah verstört aus. »Aber wer kommt denn auf die Idee – Lilliana? Bist du sicher, dass sie es ist?«
»Du kannst ja mitkommen und sie identifizieren. Je eher wir ihren Namen wissen, desto besser.« Flemming öffnete die Haustür und sah sich nach dem Streifenwagen um, der ihn abholen sollte.
»Aber ist denn der andere nicht bei ihr?«, erkundigte sich Dan.
»Welcher andere?«
»Na, ihr Kollege. Zum Teufel, wie heißt er doch gleich: Benjamin! Ist er nicht dort?«
Flemming zuckte mit den Achseln. »Gefunden wurde sie von einem Mann namens Kristian Helbjørn. Von einem Benjamin war nicht die Rede.« In diesem Moment hielt der Streifenwagen vor dem Haus, und Flemming trat auf den Fußweg. »Kommst du?«
Dan und Marianne sahen sich einen Augenblick an. Dann ließ sie seine Hand los. »Warte«, sagte sie. »Ich hol deinen Mantel.«
Um in die Werbeagentur Kurt & Ko zu kommen, musste man zuerst durch ein hohes altes Tor fahren. Die imponierenden verschnörkelten, gusseisernen Gittertore standen immer offen, sodass man direkt über den gepflasterten Hof zur Parkgarage in der Kelleretage der alten Werfthalle fahren konnte. Einige Firmen im Sundværket arbeiteten in einem der mehrstöckigen Gebäude, in denen früher die Ingenieurbüros und die Buchhaltung der Werft untergebracht waren, während andere ihre Büros in der eigentlichen Werfthalle oder in einem der flachen Gebäude an den Docks eingerichtet hatten.
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