Alle gingen davon aus, dass Dan Sommerdahl in ein paar Wochen wieder an seinem italienischen Designerschreibtisch und in seinem Büro mit Blick über den Fjord von Christianssund und auf die alte Eisenbahnbrücke sitzen würde. Man rechnete fest damit, dass er seinen kometenhaften Aufstieg auf der Karriereleiter fortsetzen, seinen schwarzen Audi A6 durch ein noch protzigeres Auto ersetzen und noch mehr Preise und Auszeichnungen bekommen würde, die sich als hässlicher Kristallkram auf seinem Regal sammelten. Dan war sich da nicht so sicher.
Der Weg zum Titel des Direktors war gewunden und von Glück und Zufällen geprägt gewesen – angefangen hatte es mit einem blendenden Abitur, obwohl seine Mutter ihm nie ganz verziehen hatte, dass er nicht »etwas« daraus machte. Also etwas Richtiges, wie zum Beispiel ein Medizinstudium, eine Karriere in der Politik oder so etwas. Nach einem ganz kurzen Flirt mit dem Gedanken, auf die Polizeischule zu gehen, wo sein bester Freund Flemming untergekommen war, nachdem er seine Wehrpflicht abgeleistet hatte, entschied sich der einundzwanzigjährige Dan für ein Praktikum als Texter bei einer großen Kopenhagener Werbeagentur; und seine Intelligenz, gekoppelt mit einem geradezu unheimlichen und genialen Talent für Einzeiler, hatte ihn in den folgenden Jahren ganz nach oben gebracht, von Agentur zu Agentur. Er hatte seinen Job geliebt: Er liebte das Wissen um sein Können, er liebte die Überstunden, er liebte den ungezwungenen Umgangston, er liebte die coolen jungen Frauen, die in einem sanften Strom durch die Branche zogen – bisweilen auch mit kleinen Abstechern auf (oder unter) Dans Schreibtisch. Auf seine Frauengeschichten war er längst nicht mehr stolz, und die meiste Zeit gelang es ihm auch, sie zu vergessen. Jedenfalls war er glücklich, dass er Marianne nie in sein systematisches Fremdgehen eingeweiht hatte.
Und dann kam der Traumjob in seiner Heimatstadt, die Chance für einen Neustart: eine der angesehensten Positionen in der Branche und gleichzeitig die Chance, ein ordentlicher Ehemann und Vater zu werden. Dan war siebenunddreißig Jahre alt, als er zum Kreativdirektor von Kurt & Ko ernannt wurde. Er übernahm die Verantwortung für eine Gruppe von mit allen Wassern gewaschenen Artdirectors und Textern, die meisten hatte er selbst eingestellt. Eigentlich hätte alles gut sein müssen, doch es gab ein Problem: Dan eignete sich nicht zum Chef. Er war ein souveräner Planer von Konzepten, ein blendender Texter und ein unübertroffener Sparringspartner für so ziemlich jeden nur denkbaren Kunden, der es sich leisten konnte, ihn zu bezahlen. Aber er verabscheute es zutiefst, darüber zu bestimmen, wie andere Menschen ihre Zeit zu verbringen hatten. Es irritierte ihn, wenn ein Mitarbeiter zu ihm kam und ihm erklärte, warum er heute ein wenig früher gehen müsse, und Dan bekam Migräne, wenn er nur daran dachte, dass die Reinzeichner morgen vielleicht nicht genügend zu tun haben könnten. Natürlich versuchte er, das zu ignorieren. Denn wer verdiente nicht gern ein bisschen mehr, führte einen noch tolleren Titel und bekam ein größeres Büro? In den ersten Jahren verdrängte Dan die unangenehmen Fakten und versuchte, seinen Chefposten zu genießen. Um die Wahrheit zu sagen: Er versuchte in dieser Zeit ernsthaft, seiner Rolle als Abteilungsleiter besser gerecht zu werden. Er besuchte Kurse, bekam einen Coach, mühte sich regelrecht damit ab, sich selbst zu hypnotisieren und davon zu überzeugen, dass es schon irgendwie gehen würde. Sein Körper und seine Psyche reagierten jedoch allmählich auf den Fehler seiner Beförderung. Man ist nicht automatisch ein guter Chef, nur weil man auf seinem Fachgebiet gut ist. Je höher man auf der Karriereleiter steigt, desto weiter entfernt man sich in der Regel von dem Handwerk, in dem man gut ist. In Dans Fall bedeutete das, dass er Aufgaben an Mitarbeiter delegieren musste, bei denen es sich um die Besten handelte, die er für Geld hatte kaufen können, die aber im Grunde niemals so gut sein würden wie er. So etwas lässt sich ungestraft ein Mal machen, vielleicht auch zwei oder drei Mal, als diese Praxis dann alltäglich wurde, fraß sich die Frustration in seinen Organismus und setzte sich wie eine Krebsgeschwulst fest.
Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder musste Dan lernen, sich auf seine Mitarbeiter zu verlassen, mit ihren Lösungen zu leben, sich eine dickere Haut zuzulegen und seine fachliche Eitelkeit zu beherrschen. Oder er musste zu einem Kontrollfreak werden, der sich in alles einmischte und die Vorschläge seiner Mitarbeiter ständig überarbeitete – auch wenn es ihn sämtliche Freizeit kostete, die er so dringend benötigte. Dass Dan Sommerdahl sich für die zweite Möglichkeit entschied, versteht sich beinahe von selbst. So ist das, wenn man seinen Beruf liebt, aber ein schlechter Chef ist. Und mit diesem Entschluss befand sich Dan auf dem sicheren Weg zum Zusammenbruch. Die ersten Symptome ignorierte er, obwohl es lästig war, jeden Morgen mit Magenschmerzen zur Arbeit zu fahren. Im Laufe des Tages hielt er die Fassade aufrecht, lächelte und machte Witze, während er sich innerlich nur noch darauf freute, wieder zu Hause unter die Bettdecke kriechen zu können. Erst als ihm die erheblich zugenommene Gleichgültigkeit gegenüber seiner Arbeit auffiel, die er früher immer geliebt hatte, fingen die Alarmglocken allmählich zu schrillen an – aber noch immer weigerte er sich, dem Problem in die Augen zu sehen. Vielleicht würde ein neuer Kunde helfen, eine neue Aufgabe, ein paar neue Mitarbeiter. Er bündelte immer mehr Kompetenzen bei sich, nahm an Konferenzen in aller Welt teil, organisierte ambitionierte Werbekampagnen und wurde regelmäßiger Protagonist der Fernsehsendung »Zeig mir deinen Stil«, in der Experten versuchten, sich in ihrem Wissen über Konsum und Lebensart gegenseitig zu übertreffen.
Dan hatte immer mehr zu tun, doch seine Lunte wurde kürzer und kürzer. Nicht ganz so wichtige Geschäftsverbindungen erlebten ihn stets lächelnd und gut gelaunt, bei seinen eigenen Mitarbeitern indes sank seine Popularität rasch. Und es gibt nichts Demotivierenderes als einen schlecht gelaunten, gereizten Chef. »Ich weiß, dass du keine Lust hast, aber du musst doch eine Meinung zu dieser Typografie haben, Dan«, murrte der Artdirector. »Wer hat bloß auf deinen Mars-Riegel gepisst, Sommerdahl?«, pflaumte ihn der Medienberater an, ohne dass sich auch nur der Ansatz eines Lächelns in seinen Augen zeigte. »Willst du nicht mal Urlaub machen, Boss?«, fragte der Grafiker ganz direkt und sprühte verärgert Reinigungsmittel auf seinen Bildschirm, um die Spuren von Dans ewig krittelndem Zeigefinger zu löschen.
Ja, er brauchte Urlaub. Aber Ferien waren das Letzte, was er sich erlauben konnte. Wenn er sich nicht um all diese unglaublich langweiligen Aufgaben kümmerte, würden seine geistig zurückgebliebenen Mitarbeiter sie ja selbst übernehmen müssen, und dazu waren sie einfach nicht in der Lage. Niemand kam ohne Dan zurecht, meinte Dan. Und je schwerer es ihm fiel, seiner Arbeit nachzukommen, desto überzeugter war er, Opfer eines bösartigen Komplotts seiner Mitarbeiter zu sein, die bewusst gegen ihn zu arbeiten versuchten.
Er fing an, ein Leben zu führen, in dem es nur noch Platz für das Allernotwendigste gab. Im Büro hielt er sich aufrecht, aber sobald er nach Hause kam, ging er ins Bett oder legte sich mit der Fernbedienung in der Hand aufs Bett. Er schlief immer länger, zehn Stunden, elf Stunden, zwölf Stunden am Tag, trotzdem war er nicht weniger müde. Im Gegenteil. Schließlich hatte er außerhalb der Arbeitszeit keinerlei Kraft mehr für irgendwelche Aktivitäten. Er hatte kaum noch Kontakt zu seiner Frau, seinen Kindern oder seiner Mutter.
Es musste übel ausgehen, und so kam es auch. Eines Tages Ende September wachte Dan morgens auf, und sowie er die Augen aufgeschlagen hatte, wusste er, dass er nicht in der Lage sein würde, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Tatsächlich konnte er überhaupt nicht gehen. Er hätte seine Beine niemals aus dem Bett schwingen können, nachdem er noch nicht einmal den Kopf heben konnte und das Kopfkissen offensichtlich in seinem Nacken festklebte. Also blieb er einfach liegen. Als Marianne eine halbe Stunde später den Kopf zur Schlafzimmertür hineinsteckte und fragte, ob er nicht bald aufstehen wolle, kamen ihm plötzlich die Tränen. Er konnte nichts sagen, er starrte einfach nur an die Decke, während ihm die Tränen in die Augenwinkel, über beide Wangen und weiter auf die Bettdecke liefen.
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