Irgendwann hatte er aufgehört, durch die Luftlöcher das immer gleiche Schauspiel zu beobachten: Mama kam mit einem fremden Mann herein. Der Mann legte ein Geldstück auf den Tisch. Mama hob ihre Röcke und ließ sich darunter anfassen. Es machte ihr Spaß, denn sie lachte. Auch der Mann lachte und stöhnte. Dann ließ er die Hosen herunter und sie legten sich auf das Bett. Was dort passierte, konnte er durch die Luftlöcher nicht sehen. Er hörte jedoch ihre Laute. Die Schreie von Mama fand er jedes Mal widerwärtig.
Vater hätte das sicher nicht erlaubt. Der war Richter und kämpfte gegen das Böse und Schlechte. Aber Vater war seit seinem fünften Geburtstag verschwunden und hatte ihn und Mama zurückgelassen. Zuerst hatte seine Mutter geglaubt, dass er nur auf Reisen sei, doch er war bis heute nicht zurückgekommen. Seine Mutter erzählte überall, dass er ermordet worden sei, vielleicht von einem der üblen Burschen, die er in den Kerker gebracht hatte. Sie hatten jedenfalls die schöne große Wohnung am Münsterplatz verlassen müssen und lebten nun in diesem kleinen Dachzimmer im Gerberviertel, wo es im Winter bitterkalt war. Jetzt, im Sommer, war es unausstehlich heiß. Die toten Tierhäute an der Blau mussten trocknen, sie stanken so übel, dass man kaum atmen konnte. An so schwülen Tagen wie heute dachte Nino nur daran, schnell wieder aus der Kiste zu kommen.
»Oh, Wiga!« Der Ausruf holte ihn abrupt aus seinen Gedanken. Nie zuvor hatte er von irgendeinem der Männer den Namen seiner Mutter gehört. Das war kein Fremder. Diese Stimme kannte er. Schnell lugte er durch die Luftlöcher.
Das war der Pfarrer, der immer so lange von der Kanzel sprach und bei dem Mama jede Woche in dem großen Wandschrank kniete, um ihm ihre Sünden zu beichten. Nun stand dieser Mann nackt hier im Zimmer, war freundlich und zärtlich zu ihr – und sie zu ihm. Seine Mutter zog sich langsam aus und fiel diesem Mann um den Hals. Das hatte sie früher nur bei Vater gemacht. Der Mann legte auch kein Geldstück auf den Tisch, sondern schenkte ihr ein kleines Kästchen, über das sie sich offenbar sehr freute. Was anschließend im Bett passierte, das Nino normalerweise mit seiner Mutter teilte, konnte er wieder nicht sehen. Zuerst hörte er Stöhnen, dann lange Zeit Stille und schließlich die Stimme, die er von der Kanzel kannte: »Martinus, ich danke dir!«
»Wen meinst du?«
»Meinen werten Herrn Collega aus Wittenberg.«
»Erklär dich deutlicher.«
»Dem Luther hab ich recht eigentlich die Freuden mit dir zu verdanken. Denk nach, Wiga. Ohne den großen Reformator wäre dein Mann nie Protestant geworden, dich hätte dein unkeuscher Broterwerb nie in meinen Beichtstuhl getrieben, und ich wäre nie in deinem Bett zu solchen Freuden gekommen.«
»Aber dass jetzt die heilige Messe in Ulm verboten ist, kümmert dich wohl überhaupt nicht, Mann Gottes?«, fragte seine Mutter und lachte.
»Dein warmer Leib ist mir lieber.«
»Sacrilegium!«
»Nicht unter diesen gottlosen Umständen! Lass uns diesen ruchlosen Ort verlassen, wo Calvinisten, Lutheraner und Schwenckfelder die Luft verpesten. Komm mit mir dahin, wo uns niemand kennt und die Leute noch den wahren Glauben leben. Keine Einwände! Ich richte dir in der Nähe meiner neuen Gemeinde eine Unterkunft ein. Du wirst dieses Loch schnell vergessen.«
»Aber ich bin eine verheiratete Frau, Herr Pfarrer!«
»Erstens ist dein Mann Protestant geworden, eine solche Ehe kann man gar nicht brechen, weil dieses Sakrament nicht mehr gültig ist. Und zweitens ist der schöne Herr Richter mit einer Lutherischen gesehen worden. Von dem hast du nichts zu erwarten.«
Nach einer Pause flüsterte er: »Und was ist mit …?« Seine Stimme war kaum hörbar.
Nino wusste sofort, dass es um ihn ging.
»Er ist bei einer Nachbarin«, log seine Mutter.
Am liebsten hätte er gegen die Truhe geschlagen. Wenn er log, setzte es Hiebe.
»Für die Frucht deines Leibes wird die Mutter Kirche sorgen. Wenn du ihn wirklich loswerden willst, dann steht ihm eine glänzende Zukunft bevor.«
»Ich verstehe nicht.«
»Wenn du dich mir ganz und gar anvertraust, sorge ich dafür, dass er in strenger Zucht zu einem keuschen Mitglied der katholischen Kirche erzogen wird. Du kannst Gott kein größeres Geschenk machen als deinen Sohn. Das wäre der Ablass für all deine Sünden, meine Schöne! Die du bereits begangen hast und die da hoffentlich noch kommen werden!« Er lachte und erhob sich.
»Aber er ist doch noch so klein!«
»Er muss weg, je schneller, desto besser!«
Stämmige Beine näherten sich der Truhe. Nino presste sich ängstlich auf den Boden. Der Deckel ächzte unter dem Gewicht des Pfarrers und in Ninos Ohren dröhnte es, als der Mann mit der Faust auf die Truhe schlug und ein weiteres Lachen ausstieß.
»Ein Kind zu Gottes Ehren und unserer Lust! Am Ende bringt dein Balg es vielleicht sogar noch zum Bischof oder Kardinal und ich beichte ihm mein eigenes unkeusches Leben. Ist das nicht eine herrliche, eine geradezu göttliche Schnurrpfeiferei?«
Im nächsten Moment war der Pfarrer zurück im Bett. Das Stöhnen drang nicht durch Ninos Gedanken, die immer quälender wurden:
Warum? Warum, Mutter? Er war doch ganz still geblieben, hatte sich nicht gerührt. Sie wollte ihn nicht mehr bei sich haben. Er war doch immer lieb zu ihr gewesen, hatte sich ganz klein gemacht. Er hatte nichts falsch gemacht und sie trotzdem verloren. Es hatte keinen Sinn, lieb zu sein. Mama würde mit dem Mann von der Kanzel gehen und ihn alleinlassen – so wie sein Vater. Er nahm das rote Tuch, vergrub sein Gesicht darin; alles in ihm und um ihn wurde finster.
*
Ulm, Oberstadt, 21. Juli 1534
Tok … totok … totok, der schwere Eisenring mit der Schlange des Asklepios schlug auf die Metallplatte. Georg stand vor Taddäus Streichers Haus und wartete. Klopfzeichen und Losungswort hatte ihm ein Kommilitone anvertraut. Die Sonne war bereits hinter dem Münster verschwunden und die Straßen Ulms leerten sich allmählich.
Was für ein kluges Versteck sich diese Schwenckfelder gewählt haben, dachte er und lächelte. Das Haus eines Arztes können einzelne, ja sogar kleine Gruppen von Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit unauffällig aufsuchen.
Ganz wohl war ihm nicht beim Gedanken an die bevorstehende Zusammenkunft, schließlich gehörte er nicht zu den Anhängern dieser Gemeinschaft. Vielleicht würden sie ihn als Katholiken gar nicht einlassen? Andererseits würde er nur dann Antworten auf das erhalten, was ihn innerlich seit Langem umtrieb, wenn er neue Wege ging.
Solange er denken konnte, hatte er einen Riss gefühlt. Erst in der eigenen Familie, später in seiner Gemeinde, und je mehr er seinen Horizont erweiterte, desto tiefer und schmerzlicher empfand er ihn. Er konnte und wollte sich nicht damit abfinden, dass Menschen, die sich auf Christus beriefen, sich um Gottes willen bekriegten. Der absurde Wahnsinn darin hatte ihn schwindlig gemacht, als sein damals kindlicher Geist sich um diesen Punkt gedreht hatte. Die eigentliche Botschaft der Bibel war zur Nebensächlichkeit geraten. Georg kannte die Worte Jesu und die Forderung, ein Friedensreich zu bauen: Und dieses Friedensreich muss zuerst im Inneren der Menschen Gestalt annehmen, bevor es auch im Äußeren wächst. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.
Das, was Georg von den Kanzeln entgegengeschleudert wurde, waren nicht die Worte Jesu, sondern Angriffe und gegenseitige Schuldzuweisungen der Vertreter beider Kirchen. Wenn er für sich die Worte Jesu las, fühlte er sich Gott nahe, doch andere wollten sich als Vermittler zwischen ihn und den Herrn schieben. Warum sollte ein Mensch nicht selbst mit seinem Schöpfer in Kontakt treten können? Protestanten kämen ohne diese Vermittler aus, jedenfalls hatte man ihm das erzählt. Aber er wollte sich selbst ein Bild machen.
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