Oberfläche und Tiefe 116von mythischen Bildern
Wenn man Sozialpolitik tief verstehen will, muss man den Mythos verstehen. Denn dieser thematisierte 117von Beginn an Fragen des Gegenstandes der Sozialpolitik: das menschliche Drama, die Nöte und Sorgen, die Ängste. Das erkennt man, bezieht man sich etwa auf die griechische Töpferkunst 118, nicht angemessen, wenn die Themenanalyse deskriptiv bleibt 119. Man wird die Themen in der Formanalyse symbolisch 120tiefer verstehen müssen.
Das Leben ist eine abenteuerliche Reise (wie die Odyssee oder die Argonautica), an der der Mensch scheitern kann und daher dieses Wagnis mit Mut und Liebe als Offenheit zur Welt annehmen muss. Diese Daseinsführung als Entwicklungsaufgabe wirft die Suche und Frage nach den Sinnzusammenhängen auf, in die sich der Mensch orientierend einstellt 121. Wer bin ich? Wo stehe ich? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Wo soll ich hin? In dieser Geburtsstunde des Philosophierens entspringt aus dem Mythos 122die Idee der Polis, die Idee der Daseinsführung im sozialen Miteinander 123, so dass sich Ordnung der Freiheit gibt: das Gute, das Wahre, das Schöne. Wie will der Mensch leben und, damit umfassend, wohnen und arbeiten?
Ist die personale Lage einerseits eingebettet in das Landschaftsgefüge verschiedener, einerseits differenzierter, andererseits interdependenter Subsysteme (Wirtschaft, Politik, Kultur, Person) der Gesamtgesellschaft, so ist umgekehrt die Lebenswelt der Person eine »Keimzelle« systemfunktionaler Kapitalien (Humankapital, Vertrauenskapital, Sozialkapital, Kulturkapital) in Bezug auf die Logiken von Tausch, Herrschaft, Gabe und Engagement.
Das nachfolgende Schaubild (
Abb. 1) stellt die personale Lebenslage in den Mittelpunkt eines komplexen Kontextes. Will man die personalen Lebenslagen gestalten, muss man das gesamte Feld gestalten. Das sind der Gegenstand und die Aufgabe der Gesellschaftspolitik.
Im Mittelpunkt steht der Begriff der privaten »Keimzelle«. Damit ist, ohne normativ an die ältere konservative Familiensoziologie 124anzuknüpfen, schlicht der Alltag und die alltäglichen Lebenswelten als Quelle der Geschichten des Lebens als soziales Drama angesprochen. Der örtliche Raum des Daseins, wo gewohnt wird, von wo aus die Mobilität in die Region (Kontext des Arbeitens) stattfindet, wo konsumiert und freie Zeit verbracht wird, im Raum der Nahversorgung, ist Ausgangsunkt und Endpunkt der Betrachtungen.
Abb. 1: Der Mensch in der Mitte des Gesamtgeschehens, eigene Darstellung
Im Schaubild (
Abb. 1) soll deutlich werden, dass dieses Alltagsleben in die (Logik der) Subsysteme der modernen Gesellschaft eingebunden ist, die alle miteinander verschachtelt, also strukturell und funktional interdependent sind. Insbesondere kommt dem Staat über seine Rechtsregime eine regulative Rolle zu. Der Fetischismus der Märkte und ihre Magie der materiellen Dingwelten schreiben sich (nicht erst seit der digitalen Transformation, nunmehr aber nochmals luzider) in alle Teilräume des Lebens ein, macht Körper, Geist und Seele zur Wachstafel der ästhetischen Atmosphäre des kognitiven (oder gar surrealistischen 125) Kapitalismus. 126
Die Kirche steht im Hiatus zwischen Abgesang einerseits und (z. B. diakonische 127) andererseits Versuchen einer erneuten, menschenrechtlich fundierten 128Neubelebung der Idee des solidarischen Gemeindelebens und verweist auf die Renaissance des Nachbarschaftslebens 129im Kontext der Diskurse und Praxisentwicklungen von Caring-Community-Building (oder Community Organizing 130), angetrieben von einer schon längeren Dynamik der Zivilgesellschaft zwischen politischer Öffentlichkeitsarbeit und sozialem Dienstleistungsengagement. Gerade diese Dimension des sozialen Wandels wird im Kontext der KDA-Ideenpolitik des Quartierskonzepts in der vorliegenden Abhandlung im Lichte genossenschaftsmorphologischer Perspektiven offensiv aufgegriffen: Die Kommune wird als Hilfe- und Rechtsgenossenschaft thematisiert. Die soeben angesprochene Perspektive der Kirche wird u. E. nur dann eine wirkliche Chance haben, hier im Geschehen, sich revitalisierend, mitspielen zu können, wenn sie sich als politische Theologie der Hoffnung 131gesellschaftspolitisch radikal kritisch engagiert. Ihre Fähigkeit, affirmative Beiträge zur Reproduktion von politischer Herrschaft, sozialen Machtverhältnissen und »struktureller Gewalt« zu leisten, hat sie genügend unter Beweis stellen können. Darauf kann heute und in Zukunft dankend verzichtet werden.
Im Schaubild (
Abb. 1) sind nun zwischen den Subsystemen und dem Kern der privaten Keimzelle des Lebens vier Kürzel angesiedelt: HK, SK, VK, KK. Hiermit sind vier »Kapitalien« angesprochen, über die der Mensch in der modernen Gesellschaft in guter Ausstattung verfügen muss, um erfolgreich und sinnhaft im Verlauf des Lebenszyklus am Leben daseinsführend und somit existenzgestaltend partizipieren zu können. Der Kapital-Begriff ist hier nicht ökonomistisch gemeint. Jedoch bilden sich diese Ressourcen als Handlungsvermögen erst heraus, nachdem und indem man in ihren Ausbau investiert: Zeit, Geld, Phantasie, Mühen.
Gemeint sind Humankapital (HK), Sozialkapital (SK), Vertrauenskapital (VK) und Kulturkapital (KK). Diese Kapitalien sind notwendig, damit sich der Mensch in seiner Welt orientieren kann und sich wohnend einbauen kann, einen »Sitz im Leben« findet, sich also einrichtet. Humankapital bezeichnet den verwertbaren Ertrag der Investition in Arbeitsmarktzugangschancen in Form von zertifizierten Qualifikationen. Es geht also um Employability. Humankapital ist eine Schlüsselvariable in der Dynamik der Zugangschancen zum Erwerbsleben und somit zur Einkommensbildung sowie zur sozialen Absicherung in den Sozialversicherungen. Workability verweist auf ein Kapital, das im Schaubild (
Abb. 1) gar nicht aufgenommen worden ist, um die Komplexität in Grenzen zu halten: Gemeint ist das Gesundheitskapital (GK). Hier zeigt sich zugleich, wie hochgradig interdependent die verschiedenen Kapitalien sind. Denn Armut, Ungleichheit, Morbidität und Mortalität korrelieren in komplexer Weise eng. Bildung ist allerdings mehr als Humankapital. Daher meint KK kulturelles Kapital, das auf Daseinskompetenzen der Persönlichkeitsentwicklung verweist, die über formale Zertifikate hinausgehen. Auch hier wäre viel über die komplexen Zusammenhänge zu sagen. Doch die Ausführungen zum Schaubild (
Abb. 1) sollen sich nicht im weiten Feld einer allgemeinen Soziologie der modernen Gesellschaft verlieren. Es geht um die Frage, welche zentralen Ressourcen thematisiert werden müssen, damit das Leben als Wagnis hier und heute besser verstanden werden kann, um die Gefahren des Scheiterns des Menschen in dieser Odyssee des Lebens zu erkennen und um ihn für diese Reise fähig zu machen, von der Aaron Antonovsky in seiner Theorie der Salutogenese sprach, als er metaphorisch schrieb, der Mensch müsse ein »guter Schwimmer« im Fluss des Lebens werden. Es wird sich noch mehrfach zeigen, wie wir in diesen Auslegungen der Fragestellung nahe am Ansatz der »Befähigung« im Sinne des Capability Approach von Sen und Nussbaum (u. a.) sind. 132Es wird gleich auch noch anzusprechen sein, dass Befähigung hier keinesfalls individualisierend und risikoprivatisierend ausgelegt werden darf.
Читать дальше