Zwei Männer gesellten sich an meine Seite, als ich aus dem Bahnhof trat, und hielten mich irrtümlich für einen Touristen – ein Taxifahrer, der die besten Preise nannte, wenn man in Delhi auf Besichtigungstour gehen wollte, und ein Zuhälter, der mir Frauen, Jungen, Drogen und Schnaps sowie sämtliche Variationen davon anbot. Ich blieb stehen und drehte mich um. Es war nur ein kurzer Blick nötig, um die beiden dazu zu bewegen, schleunigst das Weite zu suchen. Ihre Augen verrieten die Angst, die ihr Geist nicht fassen konnte. Niemand sonst hatte etwas bemerkt und der Strom der Menschen brach sich an mir wie Wasser an einem Felsen und bewegte sich weiter.
Ich tauchte in die beklemmende, lärmende Menge ein und setzte meinen Weg die einfallslos benannte Main Bazaar Road entlang fort, bevor ich in eine der Gassen abbog, die zu einem berüchtigt glamourösen Teil von Paharganj führte – dem Rotlichtviertel. Die Straßen waren hier schmaler und die Gebäude so dicht gedrängt, dass sie nur wenig Tageslicht durchließen, selbst an einem so sonnigen Nachmittag. Unbeleuchtete Glühbirnen hingen vor den Fassaden der meisten Häuser, ihr buntes Spektrum an verschiedensten Farben barg das Versprechen dessen, was einen darin erwarten mochte. Eine ganz andere Welt als diejenige, die nur drei Straßen entfernt lag, aber auch meilenweit von der schwülstigen, boudoir-roten Dekadenz, die von Bollywood verherrlicht wurde. Ein Hauch von Ganja lag in der Luft, der mich an Kashi erinnerte – wäre da nicht das irritierende Wummern des Bhangra-Techno gewesen, der aus einer der vielen Tanz-Bars drang, die Tag und Nacht geöffnet waren. Weitere Zuhälter liefen neben mir her, ratterten leise ihr Angebot herunter und ließen sich dann zurückfallen, als ich kein Interesse zeigte. Eine hübsche angetrunkene Frau rief mir etwas aus einem der baufälligen niedrigen Gebäude zu, die auf beiden Seiten der Gasse standen. Ich winkte ihr zu, aber ging weiter.
Vor mir lag eine Kreuzung, die das Ende des Rotlichtbezirks markierte. Polizisten, Gangster und Zuhälter mischten sich unter die Gäste eines Teeladens, der einen strategisch günstigen Ausblick auf die ganze Kreuzung bot. Jenseits der Kreuzung waren die Straßen belebter und besser beleuchtet. Ein junges Pärchen, Ausländer mit riesigen Rucksäcken, sahen mich fragend an, während sie versuchten, die Traube von Straßenkindern abzuschütteln, die in verschiedenen Sprachen auf sie einredeten und ihnen die besten und billigsten Hotels in Delhi versprachen. Ich ignorierte sie, genau wie den nervösen Yuppie, der fragte, ob er seinen Audi (oder was auch immer) sicher geparkt hatte, während er auf der Suche nach den dunkleren Vergnügungen der weiter innen liegenden Gassen umherstreifte. Früher oder später würden die Schlepper und Zuhälter beide Kategorien an Suchenden zu ihren jeweiligen Zielen führen.
Als der Verkehr an der Ampel zu einem abrupten Stopp kam, überquerte ich die Straße und ging auf eines der größeren Gebäude zu, laut Schild ein »Bürokomplex«. Autos belegten den freien Platz davor, aber das Gebäude selbst war verlassen. Mein Auto – jetzt im Grund das von Manohar, da er derjenige war, der es fuhr – war ebenfalls dort geparkt. Wie immer hatte er den alten Maruti Esteem gewaschen und auf Hochglanz poliert – eine erstaunliche Leistung in den staubigen Sommermonaten Delhis. Ich hätte jederzeit einem Motorrad den Vorzug gegeben. Ich liebte den Wind im Gesicht, das Gefühl, die Welt in verschwommener Bedeutungslosigkeit an mir vorbeiziehen zu lassen. Aber ein Auto hatte gewisse Vorzüge und ich benutzte meinen altmodischen Schlüssel zum Öffnen des Kofferraums und warf meinen Rucksack hinein. Dann betrat ich das Gebäude.
Im Aufzug erhaschte ich einen Blick auf mich selbst in dem glänzenden Stahl, der unter der abblätternden Farbe seiner Wände zum Vorschein kam – ich lächelte. In einen Spiegel zu sehen war vermutlich das Privateste, was ich mir erlaubte. Manchmal beruhigte mich, was ich sah. Braune Augen, die meistens unergründlich wirkten, im Zorn jedoch schnell ein goldenes Blitzen erkennen ließen, die Aura kühler Arroganz, die gut zu meiner gelackten, zurückhaltenden Art passte – das waren Dinge, die sich nicht verändern würden, nicht verändern konnten.
Davon abgesehen sah ich einen Fremden; einen ungewöhnlich großen Mann, mit grau melierten Haaren, kurz geschnitten und ordentlich gekämmt. Die randlose Brille hinterließ keine Abdrücke auf seinem Nasenrücken, was darauf hindeutete, dass der Titanrahmen teuer und der Träger entsprechend wohlhabend war. Das blaue Baumwollhemd war weder teuer noch neu, aber sauber gebügelt und in ein paar makellose maßgeschneiderte Hosen gesteckt, die vorgaben, bei jeder Aktivität knitterfrei zu bleiben, das Luxuslabel war unter einem einfachen Ledergürtel versteckt. Am rechten Arm trug er eine fast schon antike Armbanduhr aus Edelstahl der Marke HMT, das Alter war an den neueren, glänzenderen Gliedern des Armbandes ersichtlich, die in das originale Metallband eingefügt worden waren, um es für sein breites Handgelenk passend zu machen.
Ich blickte von meinem Spiegelbild weg, sah an mir selbst hinab und bemerkte, dass der Geschmack von Professor Bharadvaj sich gar nicht allzu sehr von meinem eigenen unterschied. Sofort verwarf ich diesen Gedanken als sinnlose und wenig hilfreiche Sentimentalität, mein Lächeln war ebenfalls wie weggewischt. Kein großer Verlust; ich war nie jemand gewesen, der viel Emotionen gezeigt hatte.
Im obersten Stockwerk verließ ich den Aufzug und trat in eine mit Teppichböden versehene, klimatisierte Welt, die im offensichtlichen Kontrast zum verfallenen Zustand des übrigen Gebäudes stand. Die Türen in diesem Stockwerk waren nummeriert, aber anderweitig ununterscheidbar. Eine Reihe an Unternehmern, die aus dem einen oder anderen Grund um Diskretion bemüht waren – aus sozialen oder rechtlichen Gründen –, hatten hier ihre Büros. Wer hier keine Geschäfte zu erledigen hatte, wagte sich nicht über das verdreckte Erdgeschoss hinaus – die anderen ertrugen den Uringestank, der rund um den Aufzug waberte, wohl wissend, dass sie eine teure Verschnaufpause an ihrem Ziel erwartete.
Ich ging bis zum Ende des Korridors, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Die Tür zu meinem Büro stand offen und das Licht brannte.
»Guten Morgen, Manohar«, grüßte ich den robust aussehenden Mann, der hinter einem hölzernen Schreibtisch in einer Ecke des Zimmers saß. Er war die einzige Person in dem großen, rechteckigen Raum, der von seiner Einrichtung her als Empfangsbereich und Wartezimmer dienen konnte.
Manohar blickte von seiner Zeitung auf und zeigte ein aufrichtiges, jungenhaftes Grinsen, das ihn jünger wirken ließ als seine 33 Jahre. »Hey, Boss! Wie war es in Kashi?«, fragte er, wobei er die Vokale in einem unbewussten, amerikanischen Akzent langzog, das Überbleibsel einiger Jahre Studiums in den USA. Bestimmt wäre er entsetzt und beschämt, wenn ihn jemand darauf hingewiesen hätte.
»Gut. Verraucht wie immer. Hari lässt Grüße ausrichten.« Ich wartete nicht auf eine Antwort und gab ihm auch keine Chance, das anzusprechen, was mich vom Rande meines glückseligen Verschwindens wieder zurückgebracht hatte. Ich ging in mein kleines weiter innen liegendes Büro und schloss die Tür hinter mir.
Genau wie im Raum davor stand auch in meinem Büro ein Schreibtisch aus dem dunklen Holz des Kautschukbaums und ein bequemer Bürostuhl. Der Laptop auf dem Schreibtisch war an, mehr, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken, und weniger, weil ich ihn brauchte. Sowohl Manohar als auch ich verwendeten die Computer im Büro für wenig mehr als Kartenspiele oder um Nachrichten im Internet zu lesen, somit enthielten sie keinerlei Spuren und konnten leicht entsorgt werden. Die wirklich wichtigen Dinge – die Ergebnisse stundenlanger Recherche, Daten von Bankkonten, Reisepläne und Kontaktinformationen der Kunden – waren auf den iPads, die wir auf Manohars Empfehlung hin angeschafft hatten, und die man leicht mitnehmen oder zerstören konnte.
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