1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »Oh, aber ich …« Was konnte sie sagen? Dass sie gehen musste, bevor ihr geheimnisvoller Retter kam und sie womöglich wiedererkannte? Sich wohl bewusst, dass die beiden sie aufmerksam beobachteten, schluckte Clara, dann sagte sie: »Ich muss nach Hause und ich möchte Sie auch nicht zu lange von Ihrer Familie fernhalten.«
»Soll das heißen, Sie wollen den Helden nicht kennenlernen?« Mrs McPhersons Lächeln vertiefte sich. »Die meisten jungen Damen wünschen sich nichts sehnlicher.«
»Ich bin nicht wie die meisten jungen Damen«, platzte Clara heraus.
Mrs McPherson lachte. »Ich wusste, dass ich Sie mag. Keine Sorge, Miss DeLancey. Er ist den ganzen Tag fort.«
Wieder atmete sie erleichtert auf. Das anschließende Gespräch beim Tee ließ sie ihr Unbehagen beinahe gänzlich vergessen. Dann war es wirklich Zeit zu gehen. Clara stand auf, seltsam zögernd. Sie konnte gut verstehen, dass der Bruder der beiden Damen bei ihnen leben wollte. Sie hatte seit Jahren keine so warmherzige, freundliche Atmosphäre mehr erlebt.
»Ich danke Ihnen, Mrs McPherson. Es war sehr schön bei Ihnen.«
»Das freut mich. Ich habe Ihre Gesellschaft ebenfalls genossen. Und bitte, nennen Sie mich doch Matilda, schließlich sind wir ja jetzt Freundinnen.«
»Und ich bin Tessa«, sagte ihre Schwester.
»Sehr erfreut, Matilda. Tessa.« Clara lächelte und streckte die Hand aus. »Ich bin Clara. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«
Jetzt würde die Einladung zum Gottesdienstbesuch kommen. Doch nein, ein schlichtes Auf Wiedersehen und sie war draußen, schritt durch das Tor und wanderte die Straße zurück zu Donaldson, wo Meg auf sie wartete.
Sie musste unwillkürlich lächeln. Es war so schön gewesen. Die Frau des Pfarrers und ihre Schwester wirkten so ungekünstelt. Wenn Mutter über ihre offene Art hinwegsehen könnte – die Wangen wurden ihr wieder heiß, als ihr der Unfall mit dem Fernrohr einfiel –, würde sie diese Bekanntschaft wahrscheinlich gutheißen.
Chatham Hall. Sie würde Vater fragen, ob er den Ort kannte. So, wie Matilda geredet hatte, klang es, als hätte ihre Familie durchaus gesellschaftlichen Einfluss. Wenn das stimmte, würden ihre Eltern die einzigen Freunde, die sie seit ihrer Ankunft in Brighton vor vielen Monaten gefunden hatte, nicht mehr ablehnen.
Wieder spürte sie das Ziehen in ihrem Herzen. Es war eine drängende Sehnsucht nach Freundschaft. Brighton mochte hübsch sein, doch es war einsam; hier lebten fast nur Alte und Kranke. Dennoch verspürte sie seltsamerweise keine Sehnsucht nach ihren Londoner Freunden, die sie nach der Sache mit Richard plötzlich nicht mehr zu kennen schienen.
Doch diese beiden Frauen, auch wenn es ihnen vielleicht an Kultiviertheit mangelte, besaßen eine Warmherzigkeit, nach der sie sich ganz tief innerlich sehnte. Vielleicht würde es sich lohnen, Vater zu einem Besuch des Gottesdienstes am Sonntag zu überreden.
Ganz in Gedanken versunken, bog sie um eine Ecke und wäre beinahe mit einem stattlichen Herrn zusammengeprallt. »Oh … Verzeihung!«
»Mein Fehler.« Der Mann, dessen gebräuntes Gesicht und breite Schultern an einen Sportler denken ließen, verbeugte sich.
Ihr stockte der Atem. Sie tat einen Schritt zurück.
Das rotblonde Haar verstärkte den Eindruck, dass sie diese Stimme kannte.
Er richtete sich auf und sah sie aufmerksam an, mit Augen so blau wie der Himmel.
Der Mann. Ihr Retter. Der Mensch, der vermutlich ihr Geheimnis kannte und den sie auf gar keinen Fall wiedersehen wollte.
»Entschuldigen Sie mich.«
Sie drehte sich um und lief los, um die Ecke in den rettenden Hafen der Bibliothek, betend, dass er nicht den Mut hatte, ihr zu folgen.
Ben humpelte mühselig den Rest des Wegs nach Hause. Sein Besuch bei Kapitän Braithwaite war vergessen; er grübelte über die unerwartete Begegnung nach. Zwar hatte er sich nie als Frauenschwarm gesehen, doch er hatte es auch noch nicht erlebt, dass eine junge Dame buchstäblich vor ihm geflohen war. Und obwohl er nicht einmal entfernt ans Heiraten dachte – wie könnte ein mittelloser Krüppel sich das auch erlauben? –, gab es ihm doch ein wenig zu denken, dass nun schon zwei junge Damen im Laufe einer einzigen Woche vor ihm weggelaufen waren.
Er öffnete das quietschende Tor, ging den mit Muschelschalen gesäumten Weg hinauf und betrat das Cottage, das er seit Kurzem sein Zuhause nannte. Seine Schwestern saßen im Wohnzimmer.
»Benjie? Du bist schon zurück? Wie schade! Du hast sie ganz knapp verpasst!«
»Wen verpasst?«
»Miss DeLancey, weißt du denn nicht mehr? Sie ist zum Tee gekommen und … Benjie? Was ist denn? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Keinen Geist.« Nur eine hübsche dunkelhaarige Dame mit den eindrucksvollsten grünen Augen, die man sich vorstellen konnte. Eindrucksvolle grüne Augen, die sie fast angstvoll aufgerissen hatte, als sie in ihn hineingelaufen war. Als hätte sie ihrerseits einen Geist gesehen. Er runzelte die Stirn. Warum kam ihm bei diesem Gedanken eine Erinnerung?
Er schüttelte den Kopf und versuchte, seine Verwirrung abzuschütteln. Seine Schwestern sahen ihn neugierig an. Er räusperte sich. »Hattet ihr es schön zusammen?«
»Oh ja!« Matties Gesicht leuchtete auf. »Zu Anfang war sie ein wenig zurückhaltend, aber dann wurde sie umgänglicher. Bis …« Sie sah Tessa an.
Seine jüngere Schwester wurde so rot wie ihr Haar. »Ich habe ihr das Fernrohr gezeigt, das du mir geschenkt hast.«
»Lass mich raten«, lachte er. »Sie hat mehr gesehen, als sie erwartet hat. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst vorsichtig sein, solange die Badekarren draußen sind?«
»Ich habe es vergessen.«
Er wuschelte ihr durchs Haar. »Ist schon gut. Aber davon abgesehen war es nett?«
»Ja.«
»Sehr angenehm«, meinte Mattie. »Ich hatte beinahe den Eindruck, dass sie in letzter Zeit nicht viel in Gesellschaft war, was einen wundert, schließlich ist sie sehr hübsch und kommt aus London.«
»Und sie ist so gut angezogen«, fügte Tessa hinzu.
Mattie legte den Kopf schief. »Ich frage mich, warum sie nicht verheiratet ist. Sie muss in meinem Alter sein.«
Seine Gedanken kehrten zurück zu der jungen Dame, mit der er vorhin zusammengestoßen war. War sie verheiratet? Sie hatte kein Mädchen dabeigehabt, also war sie es wahrscheinlich. Er spürte einen leisen Stich des Bedauerns.
Mattie zog die Brauen hoch. »Was ist? Kein Kommentar über alte Jungfern? Kein Spott über letzte Chancen?« Sie drehte sich zu Tessa um. »Ich glaube, unserem Bruder geht es nicht gut.«
Tessas Stirn umwölkte sich. »Wie geht es Kapitän Braithwaite? Besser?«
Er dachte an seinen heutigen Besuch. »Ein bisschen«, meinte er.
»Der arme Mann.« Sie seufzte. »Er weiß doch, dass du ihm keine Vorwürfe machst?«
»Das weiß er.« Doch man konnte etwas wissen und trotzdem nicht glauben. Ganz gleich, wie oft er es ihm versichert hatte, Braithwaite konnte sich selbst nicht verzeihen, dass er Ben keinen Marinechronometer mitgegeben hatte. Ben krümmte sich innerlich bei der Erinnerung an die Standpauke, mit der sie nach ihrer Rückkehr empfangen worden waren. Er hätte sich lieber auspeitschen lassen, als sich die Worte anhören zu müssen, die sich in seine Seele bohrten wie Pfeile. Dazu kam die Schmährede, die Braithwaite hatte erdulden müssen. Ben wusste, dass die Reaktion des Admirals nur aus dem Gefühl des Kummers und des Verlusts heraus so heftig ausgefallen war, doch die Wahrheit ließ sich nicht leugnen. Ben hatte versagt. Immerhin fand er Trost in dem Wissen, dass Gott ihm vergeben hatte, auch wenn der Admiral das nicht konnte. Braithwaite blieb dieser Trost versagt.
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