»Was genau wagen?«, fragte Clara.
Mrs McPherson hielt das Buch hoch. »Sollen wir uns die Mühe machen zu prüfen, ob der Roman es wert ist, gelesen zu werden?«
»Nun, wenn er Ihnen nicht gefällt, können Sie ihn ja Ihrem Bruder zum nochmaligen Lesen geben. Vorausgesetzt, er ist nicht in der Schule.«
»Schule?« Die beiden Damen wechselten einen überraschten Blick.
Also war er vielleicht doch schon ein wenig älter? Ach ja, richtig, er war ja auf See. Sie lächelte ironisch. Mrs McPhersons Bruder war nicht der Einzige, der auf See war. Vielleicht hatte Vater recht und sie musste wirklich mehr darauf achten, was andere Leute erzählten. »Das Schöne an einer Leihbücherei ist ja, dass man ein Buch auch ungelesen zurückgeben kann. Also leihen Sie es ruhig aus.«
»Was meinst du, Tessa?«
Die kleine Rothaarige murmelte etwas Zustimmendes.
»Dann wäre das also erledigt.« Mrs McPherson lächelte strahlend, drehte sich um und trat an den Ausleihschalter. Clara blinzelte. Wie waren sie jetzt plötzlich zum Ausleihschalter gelangt? Verzauberte diese außergewöhnliche Frau die Menschen um sich herum?
Als sie fertig war, drehte sie sich wieder zu Clara um. »Miss DeLancey, ich hoffe sehr, dass Sie nun das andere Wagnis eingehen.«
»Welches andere Wagnis?«
»Dass wir Freundinnen werden.«
Vielleicht war es der offene Blick oder das freundliche Lächeln der Schwestern. Vielleicht lag es daran, dass sie das Gefühl hatte, sich diesem eisernen Willen beugen zu müssen. Vielleicht war es der Schmerz der Sehnsucht, den sie vorhin empfunden hatte, oder das leise Ziehen, das sie jetzt empfand. Was auch immer, es gab nur eine Antwort:
»Ja.«
Ben humpelte zum Pfarrhaus zurück. Die Antwort auf den Brief, den er gestern an Dr. Townsend abgeschickt hatte, konnte gar nicht früh genug kommen. Das Pochen in seinem Knie war heute Morgen stärker gewesen und die dumme Idee, eine Strandwanderung zu machen, hatte die Schmerzen noch einmal sehr verschlimmert. Warum machte Gott ihn nicht gesund? Wie für alle Angehörigen seiner Familie, bis auf seinen älteren Bruder, waren die Verheißungen der Bibel für Ben in seinem Leben so wahr wie seit Jahrhunderten. Er wappnete sich gegen die besorgten Fragen, die mit Sicherheit kommen würden, zwang sich, ganz normal zu gehen und zu lächeln, und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen.
»Benjie!«
»Hallo, Matilda. Na, was hast du heute Vormittag gemacht?«
»Ich habe es gerade David erzählt. Tessa und ich waren in der Leihbücherei. Sieh mal, was ich mir mitgebracht habe.« Sie schob ihm Waverley hin.
»Eine gute Wahl, wenn ich mich recht erinnere.«
»Und wir haben jemanden kennengelernt.«
Ben sah seinen Schwager mit hochgezogenen Brauen an. »Müssen wir uns Sorgen machen?«
Mattie lachte und strich ihrem Mann zärtlich über die Hand. »Ich glaube, mit David hat das nichts zu tun, außer vielleicht, was die Rettung ihrer Seele angeht.« Sie wandte sich wieder an Ben: »Aber mit dir …«
Er betrachtete sie stirnrunzelnd. Die Einmischung seiner Schwester in sein nicht existierendes Privatleben war wirklich das Letzte, was er brauchte.
»Sie war so seltsam. Sie hat mich angestarrt wie ein ausgestopftes Tier in Bullocks Museum.«
»Das klingt durchaus nachvollziehbar. Ich nehme an, du hattest dich nicht vorgestellt?«
Sie schnaubte. »Wir sind hier nicht in London. Hier schert man sich nicht um solche Dinge.«
»Du könntest überrascht sein. Nicht jeder schätzt diese Ungezwungenheit.«
»Wie George zum Beispiel.«
George, ihr Bruder, der zum großen Amüsement seiner Geschwister nach seinem kürzlichen Aufstieg in die Baronetswürde, die er von einem entfernten Cousin geerbt hatte, urplötzlich höchsten Wert darauf legte, korrekt angeredet zu werden.
»Sie war sehr nett«, sagte Tessa leise.
»Wer? Ach, die Dame, die ihr kennengelernt habt. Hat sie auch einen Namen?«
»Miss DeLancey.«
Er runzelte die Stirn. Warum meinte er sich an diesen Namen zu erinnern?
»Ben? Was machst du für ein Gesicht? Kennst du sie?«
»Der Name sagt mir etwas«, meinte er. Möglich, dass er ihr irgendwann mal begegnet war, vor langer Zeit, als er noch ein anderer Mann in einer anderen Welt war.
»Vielleicht hast du ja bald die Möglichkeit, es nachzuprüfen. Ich habe sie für Freitag eingeladen.«
»Diesen Freitag?«
»Ja.« Sie hob eine Braue. »Sag jetzt nicht, dass du nicht da bist.«
Er lehnte sich zurück, sein Lächeln wurde echt. »Ganz richtig, ich werde nicht da sein.«
»Aber Benjie! Sie macht so einen netten Eindruck und hat so ein liebes Lächeln.«
»Wie auch immer, ich möchte sie nicht kennenlernen.«
Mattie zog einen Schmollmund. »Wie kannst du nur so ungehobelt sein?«
»Du hast ihr doch hoffentlich nicht gesagt, ich wäre da.«
»Natürlich nicht.«
»Dann sehe ich überhaupt kein Problem. Und überhaupt solltest du dich mit deinen Kuppeleiversuchen lieber auf George konzentrieren. Er braucht weiß Gott jemand, der bereit ist, über seine Arroganz hinwegzusehen.«
Sie lachte, allerdings nur zögernd. »Du musst irgendwann heiraten, Benjie.«
»Eines Tages, Mattie. Vergiss nicht, ich lasse mich nicht zwingen.«
Sie griff nach seinem Arm und drückte ihn sanft. »Ich will doch nur, dass du glücklich bist.«
»Ich bin glücklich.«
Sie zog die Brauen hoch.
Er sah hinüber zu Tessa, die ein ebenso zweifelndes Gesicht wie Mattie machte. Sein Gewissen regte sich. Er war seit seiner Rückkehr nie mehr so glücklich gewesen wie vor jener schicksalhaften letzten Fahrt. Aber er war zufrieden, meistens jedenfalls. Und war Zufriedenheit nicht fast gleichbedeutend mit Glücklichsein?
Matilda seufzte. »Du kannst protestieren, so viel du willst. Mich überzeugst du nicht.«
»Das liegt ganz bei dir.«
»Aber einer Sache bin ich mir sicher.« Sie warf den blonden Kopf zurück. »Ich bin sicher, dass du Miss DeLancey bald begegnen wirst.«
Damit stand sie auf und ging hinaus. Er blieb zurück und wunderte sich über ihre Entschlossenheit. Und da er wusste, dass sie meistens recht hatte, wurde ihm ein bisschen unbehaglich zumute.
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Am nächsten Tag kam eine an Clara adressierte Nachricht mit einer Einladung zum Tee im Pfarrhaus am kommenden Freitag. Im Pfarrhaus? War Mrs McPherson etwa die Frau eines Geistlichen? Darauf wäre sie im Leben nicht gekommen. Waren denn Geistliche und ihre Frauen nicht durchweg unglaublich bieder und altmodisch? Wer hätte gedacht, dass eine Pfarrersfrau so vorlaut und freundlich sein konnte – und so frivol, dass sie sich sogar für Romane interessierte?
Mutter runzelte die Stirn. »Du wirst hingehen müssen, wenn die Frau des Pfarrers dich eingeladen hat. Aber ich kann es trotzdem nicht gutheißen. Wo hast du sie denn kennengelernt?«
»Bei Donaldson, Mutter.«
»Hm. Vielleicht solltest du nicht mehr an solche Orte gehen, wenn du dort von Gott und der Welt belästigt wirst. Wo war denn Meg?«
»Besorgungen machen, glaube ich.«
»Nun ja«, Mutter tippte auf die Einladung, »ich kann nicht mitkommen. Ich habe für den Tag bereits Lady Osterleys Einladung zum Essen angenommen. Willst du mich wirklich nicht begleiten? Reginald müsste auch dort sein.«
Noch ein Grund, nicht mitzugehen. Der einzige Mensch, der noch mehr Begabung für todlangweilige Gespräche hatte als Lady Osterley, war ihr Sohn. »Vielen Dank, Mutter, aber ich finde, ich muss Mrs McPhersons Einladung annehmen.«
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