Megs schlaffes, teigiges Gesicht wirkte so gleichgültig wie immer. Sie war mitgekommen, um ein paar Besorgungen zu machen, und fungierte gleichzeitig als Anstandsdame. Nicht dass Clara eine Anstandsdame benötigt hätte. Mit fünfundzwanzig brauchte sie sich über Fragen der Schicklichkeit keine Gedanken mehr zu machen. Doch Mutter tat es nach wie vor und Clara stritt nicht mit ihr.
Clara blieb an dem eisernen Geländer stehen, nicht zu dicht an den Badehäuschen, und wechselte die schwere Büchertasche in die andere Hand. Der leichte Wind, der zu Brighton dazuzugehören schien, hatte offenbar einen Anfall von schlechter Laune; er kam plötzlich in kleinen, wütenden Stößen, als wollte er die Fußgänger daran erinnern, wozu er fähig war. Sie atmete tief die salzige Luft ein. Sie war kühl und belebend. Man konnte verstehen, warum Dr. Russell seinen Patienten so lebhaft die Vorteile eines Aufenthalts an der Küste empfohlen hatte. Sie fühlte sich schon besser – irgendwie reiner –, wenn sie nur die frische Seeluft einatmete. Es fühlte sich an, als würden die Spinnweben aus ihrer Seele fortgeblasen werden.
Aber natürlich war das lächerlich. So hübsch Brighton auch sein mochte, außerhalb der Saison war es einfach nur ein gewöhnliches Fischerdorf. Hier mochte zwar der berühmte Marine Pavillon des Regenten stehen, doch der würde erst in einigen Monaten wieder zu Besuch kommen. Und bis dahin würde sich auch die feine Gesellschaft nicht hier zeigen, die sich in allem nach dem Thronerben richtete, wie Bienen, die um eine Rose summten. Brighton würde also trist und öde bleiben, bis der Regent Londons müde war. Ihr selbst war das im Moment gar nicht so unrecht. Brighton ohne die feine Gesellschaft hatte den Vorteil, dass keiner sie kannte. Es gab kein Gerede, niemanden, der über sie urteilte. Doch Brighton ohne die feine Gesellschaft hatte auch einen Nachteil. Zwar kannte sie keiner, doch umgekehrt kannte auch sie noch keinen Menschen, obwohl sie jetzt schon mehrere Monate hier waren.
Eine Möwe kreiste laut krächzend am Himmel, hoch über einem kleinen Fischerboot, als sähe sie etwas, das für immer unerreichbar für sie war. Plötzlich empfand sie einen Stich, so schmerzhaft, dass sie den Atem anhielt und ihr Tränen in die Augen schossen.
»Miss?«
Sie tauchte aus ihren Tagträumen auf und sah das Mädchen an, dessen Gesichtsausdruck unerträgliche Langeweile verriet. »Ja, Meg?«
»Ich könnte vorausgehen zum Markt, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Nein, natürlich nicht. Ich bringe inzwischen die Bücher zurück zu Donaldson. Es dauert nicht lange.« Sie sah das Mädchen bedeutsam an. »Deine Besorgungen werden wesentlich länger dauern.«
Meg blinzelte. »Ich … äh … natürlich, Miss.«
»Dann wünsche ich dir einen schönen Vormittag. Wir sehen uns zu Hause.«
»Jawohl, Miss.«
Clara eilte davon, bevor dem Mädchen Bedenken kommen konnten. Allein unterwegs zu sein, und sei es auch nur für eine kleine Besorgung, schenkte ihr ein köstliches Gefühl von Freiheit. Sie überquerte die Parade, lief an dem Karren eines Tuchhändlers vorbei, bog in die Manchester Street ein und ging die Steyne entlang bis zur Leihbücherei.
Zu dieser Tageszeit herrschte Ruhe in dem eleganten Gebäude, sodass die Rückgabe sehr viel schneller vonstattenging als zu einer beliebteren Zeit. Sie eilte an der Sitzecke vorbei, wo die Zeitungen auslagen, und hoffte, dass der allzu freundliche Mr Whitlam sie nicht sah. Er war ein korpulenter, gichtgeplagter älterer Herr, der anscheinend auf dem Sofa am Fenster Wurzeln geschlagen und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, jedes Mal wenn sie in die Bücherei kam, mit ihr zu plaudern. Als er aufblickte, duckte sie sich hinter ein großes Bücherregal. Sie mochte einsam sein und vielleicht sehnte sie sich ganz, ganz tief in ihrem Innern sogar nach einem Ehemann, aber so verzweifelt war sie denn doch noch nicht! Dann bog sie um die Ecke und stand vor den Romanen, ihrem – und ihrer Mutter – liebsten Lesestoff. Zwei junge Damen gingen durch die Reihen, die eine blond, die andere ein Rotschopf.
»Ich weiß nicht«, meinte die blonde Dame und betrachtete das Buch, das die Jüngere in der Hand hielt, »ich bin nicht sicher, ob es schicklich ist.« Sie sah auf, fing Claras Blick ein und lächelte. »Guten Morgen.«
Clara neigte den Kopf. »Guten Morgen.« Wie seltsam von dieser Dame, eine Fremde anzusprechen. Sie wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf die Regale. Miss Burneys Romane sagten ihr immer zu, aber sie hatte sie schon mehrmals gelesen. Vielleicht konnte Donaldson auch den neuesten noch beschaffen?
»Entschuldigung.«
Clara drehte sich um. Die beiden Damen schauten sie an. Nach den gleichen strahlend blauen Augen und der Ähnlichkeit der Gesichtszüge zu urteilen, schienen sie Schwestern zu sein. Die Rothaarige lächelte etwas zögernder als die andere.
»Ich habe gerade überlegt, ob Sie Waverley kennen? Mein Bruder meinte, es enthielte ein paar sehr anschauliche Schlachtszenen.«
»Nein, ich kenne es nicht, aber ein paar von Walter Scotts Gedichten haben mir sehr gefallen.«
»Oh, ich liebe Marmion «, rief die Blonde. »Es ist mir ganz egal, was die Kritiker sagen. Ich mag beschädigte Helden. Das macht sie so viel glaubwürdiger, finden Sie nicht?«
»Äh …« Wer mochte diese seltsame Dame sein? Und was ihre Ansicht über beschädigte Helden betraf … »Ich … ja, ich nehme es an.«
»Wir wissen nur zu gut, dass Helden beschädigt sein können, nicht wahr, Tessa?«, wandte sie sich an den Rotschopf, in deren leuchtendem Haar Glanzlichter funkelten, als sie nickte. »Manche verstecken ihr gutes Herz hinter dicken Schichten von Humor und Neckereien.«
Clara dachte an den Mann, der sie vor drei Nächten gerettet hatte. »Oder Zorn.«
»Ganz genau! Oh, entschuldigen Sie bitte.« Die Blonde streckte die Hand aus. »Ich bin Mrs McPherson und das ist meine Schwester, Miss Kemsley.«
Clara gab ihnen die Hand. »Miss DeLancey.«
»Nun, Miss DeLancey, ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?«
»Ich, das heißt, meine Familie lebt erst seit einem knappen Jahr in Brighton.«
»Aber das ist ja wunderbar! Meine auch! Na ja, eigentlich erst seit sechs Monaten. Ich bin hierhergezogen, als ich geheiratet habe.« Mrs McPherson lächelte gewinnend. »Davor habe ich bei meinem Bruder in Kent gelebt, wissen Sie.«
Clara nickte leicht benommen, als wüsste sie es wirklich. War sie schon je einem solchen sprühenden Temperamentsbündel von Dame begegnet? Mutter würde einen Anfall bekommen! Und Vater würde Mrs McPherson zweifellos als vulgäres Gewächs bezeichnen. Doch irgendetwas ließ sie stehen bleiben und dieses keineswegs von ihr gewünschte Gespräch fortsetzen. »Ist das der Bruder, der Waverley gelesen hat?«
»George? Nein, ich glaube, er liest leider schon seit Jahren nur noch die Rennberichte. Nein, Benjie ist derjenige, der immer gern gelesen hat, was sich gut trifft, wenn man so viel Zeit auf See verbringt, nicht wahr?«
Benjie? Was für ein seltsamer Name; ein Name für einen Welpen. Er musste noch ziemlich jung sein. Andererseits war es recht altklug, in so jugendlichem Alter schon seine Ansichten über Scotts Romane zum Besten zu geben. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass die beiden Damen sie neugierig ansahen und offensichtlich auf eine Antwort warteten, und sagte: »Ich glaube schon.«
Die Blonde lachte ein warmes Lachen, das eine noch nicht lange zurückliegende Erinnerung wachrief, doch bevor Clara sich klar werden konnte, woran es sie erinnerte, sagte Mrs McPherson: »Also, Miss DeLancey, sollen wir es wagen?«
Sie hatte sich bei ihrer Schwester eingehängt und ging langsam los, sodass Clara ihr folgen musste.
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