»Ja, Vater.« Sie sahen sie noch immer erwartungsvoll an. »Oh, ich möchte wirklich gern wieder nach London.« Hoffnung stieg in ihr auf. Vielleicht wäre eine ihrer alten Freundinnen jetzt wieder gewillt, sie zu empfangen. Alles war besser als die tödliche Langeweile von Brighton. Für Leute, die genügend Mittel und Freunde hatten, mochte es eine wunderbare Spielwiese sein, doch wer keines von beidem besaß, befand sich hier auf einem einsamen Außenposten.
»Wir werden nur ein paar Wochen bleiben können. Und ich fürchte, wir werden auch nicht jede wichtige gesellschaftliche Veranstaltung besuchen können«, sagte Mutter mit einem Seufzen und einem Seitenblick auf Vater. »Die Kosten, du weißt ja.«
Und der Mangel an Einladungen. Ihre Finger verkrampften sich. Wie lange musste sie noch für die Sünden ihres Bruders bezahlen?
»Egal«, fuhr Vater fort. »An den wirklich wichtigen wird sie teilnehmen können. Aber ich will, dass du diese düstere Stimmung ablegst und dein Strahlen wiederfindest. Männer mögen kein mürrisches Gesicht, mein Mädchen.«
Männer mochten sie sowieso nicht, auch wenn sie nicht so verbittert wäre. Doch sie zwang folgsam ein Lächeln auf ihre Lippen. »Natürlich nicht.«
»Da! Das will ich sehen! Jetzt sei nur noch glücklich und alles wird gut. Du wirst schon sehen.«
Sie wahrte ihre Maske und lächelte. Nun gut, wenn Vater wollte, dass sie sich einen Mann angelte und die Reihen der alten Jungfern verließ, an ihr sollte es nicht liegen. Sie würde die beste Schauspielerin sein, die er je gesehen hatte.
Die Orgelmusik begleitete sie auf dem Weg aus der Kirche hinaus in den Sonnenschein. David, der noch seinen Talar trug, grüßte jedes Gemeindemitglied mit derselben Wärme und Offenheit. Tessa ließ Bens Arm los und ging zu ein paar jungen Frauen hinüber, um mit ihnen zu reden. Das heitere Plaudern, das bald darauf zu vernehmen war, ließ auf alte Freundschaften schließen. Ben beobachtete unterdessen die Leute. Er war froh, endlich Gelegenheit zu haben, sich die Anwesenden genauer anzusehen. Doch die Dame, die letzte Nacht seine Träume heimgesucht hatte, entdeckte er nirgends.
Dabei gab es keinen Mangel an jungen Damen, was zweifellos an Matildas gewinnender Art und ihrer einwandfreien Herkunft lag. Aber es war keine junge Dame mit rabenschwarzem Haar und blitzenden Augen darunter. Allerdings war eine Predigt über das dritte Buch Mose eher dazu geeignet, den Blick zu trüben, als ihn funkeln zu lassen, ungeachtet des Alters oder Geschlechts der Schäfchen. Ben schätzte seinen Schwager wirklich, doch die staubtrockene Predigt, die er heute gehalten hatte, hatte ihm nicht zugesagt.
»Hast du sie entdeckt?«
Er blickte auf Matilda herunter, die sich lebhaft umsah. »Wen entdeckt?«
»Deine geheimnisvolle Lady natürlich. Tu nicht so, als ob du nicht Ausschau nach ihr halten würdest.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Hm. Vielleicht geht sie in der Chapel Royal zum Gottesdienst. Nächstes Mal kannst du es ja dort probieren.«
»Natürlich gehe ich da nicht hin, Mattie. Ich besuche den Gottesdienst, den mein Schwager hält.« Auch wenn die Predigten nicht nach seinem Geschmack waren. Er blickte zu ihr herunter und sah die Belustigung in ihren Augen.
»Ich rede mal mit ihm über die Predigten. Er glaubt, er müsse die Themen wählen, die der Bischof vorschreibt, aber wenn er das beibehält, werden die Kirchenbänke sich schneller leeren als eine Flasche Rum.«
Er lachte auf. »Ich weiß nicht, ob David solche freimütigen Ansichten zu schätzen weiß.«
»Nun, ich weiß jedenfalls, dass der Bischof es nicht schätzen wird, wenn seine Einnahmen sinken.« Sie sah ihn an; ihr Blick wanderte zu seinem linken Bein. »Wie geht es heute? Du schienst mir auf dem Weg hierher ein bisschen zu hinken.«
Er unterdrückte ein Seufzen. Sie merkte aber auch alles! »Es geht.«
»Aber nicht, wie es sollte. Solltest du nicht besser nachschauen lassen?«
»Mattie, ich sage doch, mein Knie ist in Ordnung. Es geht mir gut.«
»Nein, tut es nicht«, sagte sie unverblümt. »Wenn du doch nur einen Funken Verstand hättest und zu deinem Londoner Arzt gehen würdest! Du willst doch kein Krüppel werden, noch bevor du dreißig bist.«
Er war ein Krüppel, obwohl er noch keine dreißig war. Mattie wollte es nur nicht wahrhaben. »Geh mal zu der alten Dame da drüben. Sie sieht aus, als wüsste sie deine Ratschläge zu schätzen.«
Sie schnaubte und ging. Er blieb, wo er war, nickte den Leuten zu, die seinen Blick auffingen, und sprach mit denen, die sich trauten, mit ihm zu reden. Eigentlich hatte er gedacht, letzten Sonntag genug über seine Zeit in Afrika erzählt zu haben, doch offenbar nicht genug für manche Männer, die unbedingt noch mehr wissen wollten. Irgendwann gelang es ihm endlich, die Rede auf Napoleons jüngste Taten zu bringen.
Tessa kam zurück. Die Gemeinde löste sich allmählich auf und sie gingen zusammen über den Friedhofsrasen, der übersät war mit Glockenblumen und den ersten Butterblumen. Welch ein Kontrast zu den wilden, unbewohnten Küsten Afrikas, wo sein verzweifelter Marsch nur durch die sparsam wachsenden, robusten, kleinen weißen Blumen etwas erträglicher wurde, die ihn an winzige Gänseblümchen erinnerten. Er schüttelte die Erinnerungen ab und antwortete, wie es von ihm erwartet wurde, auf Tessas Bemerkungen über das Wetter, das sich doch sehr gebessert hatte.
Sie kamen am weitläufigen Wohnsitz des Gemeindepfarrers vorüber, der zurzeit leer stand, weil der Pfarrer sich für längere Zeit in Irland aufhielt. David hatte seine Stellvertretung inne. Das kleine, sehr viel bescheidenere Haus für den Vikar lag ein Stück weiter an derselben Straße. Auf dem Weg den Hügel hinauf fing sein Knie wieder an zu schmerzen. Er biss die Zähne zusammen. Wenn Davids und Matties Cottage nicht einen so wunderbaren Blick aufs Meer und die Klippen bis nach Rottingdean hätte, hätte er sich wohl eine Unterkunft gesucht, die für ihn leichter zu erreichen war. Nicht dass er es sich hätte leisten können oder – er grinste innerlich – dass Mattie es ihm erlaubt hätte. An der Türschwelle stolperte er und war froh, dass seine Schwestern so sehr in ihr Gespräch vertieft waren, dass es ihnen nicht auffiel. Nur David warf ihm einen Blick zu. Ben schüttelte angesichts der unausgesprochenen Frage seines Schwagers nur den Kopf und ließ sich aufs Sofa fallen, von dem aus er auf das schimmernde Meer hinaussehen konnte.
Das spiegelglatte Wasser schimmerte im Sonnenlicht. Welch ein Gegensatz zu den tosenden Wellen in der letzten Nacht! Er dachte daran, was Matilda vorhin gesagt hatte, und versuchte, das Pochen in seinem Knie zu verdrängen. Vielleicht sollte er doch noch einmal Dr. Townsend aufsuchen. Bei der Gelegenheit konnte er auch gleich Burford und Lancaster besuchen. Er konnte sie ja mal anschreiben und fragen, was sie von einem Besuch hielten. Ja, vielleicht war eine kleine Reise nach London doch gar keine so schlechte Idee.
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Zwei Tage später
Clara ging den knappen Kilometer die Marine Parade entlang zu Fuß. Sie war froh, Mutters ewiger Besorgnis entkommen zu sein, mit der jeder Raum wie mit einer schweren, dunklen Tapete ausgekleidet schien, wodurch ihr Haus sich noch winziger und beengter anfühlte, als es sowieso schon war. Sie wanderte nicht mehr auf die Klippen hinaus. Es machte ihr keine Freude mehr. Was, wenn der Mann zurückkam und sie wiedererkannte? Sie schauderte. Und dann? Und wenn sie ihn erkannte? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, damit ihre Begleiterin nichts merkte.
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