1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 »Wir müssen weiter für ihn beten.«
Ben betrachtete seine jüngere Schwester. Ihr Interesse an seinem Kameraden war in den vergangenen Monaten nicht erloschen. Sie war vor Kurzem siebzehn geworden und damit in einem Alter, in dem sie anfällig für Herzensdinge war. Doch es war nicht gut, wenn sie sich in Braithwaite verliebte. Er wechselte einen Blick mit Mattie.
Sie nickte leicht. »Es ist immer gut, für die Kinder Gottes zu beten. Ben, ich dachte kürzlich, dass es vielleicht Zeit ist, dass Tessa einmal unseren lieben Bruder besucht. Mach bitte kein solches Gesicht, meine Liebe! So steif und bieder ist George nun auch wieder nicht. Und jetzt, wo er den Titel hat, sollte er allmählich anfangen, auch an andere zu denken und nicht immer nur an sich selbst.«
»Du glaubst eben an Wunder«, sagte er.
»Natürlich«, antwortete Mattie.
Als er ihren ruhigen Blick sah, schlug er reumütig die Augen nieder. Er wusste genau, wie lange seine Schwestern für ihn gebetet hatten, als er vermisst war. Und er wusste auch, dass ihr Glaube ihn am Leben gehalten hatte. In den Augenblicken äußerster Verzweiflung hatte er den Trost einer Gegenwart gespürt, die er kannte, einer Gegenwart, an die der arme Braithwaite kaum zu glauben gewagt hatte. Als alle die Hoffnung verloren hatten, hatte Gott sich als treu erwiesen. Seine Rückkehr nach England war ihm immer wie eine Belohnung Gottes an seine Schwestern vorgekommen, deren Glaube unerschütterlich geblieben war, und wie ein Beweis dafür, dass Gottes Gnade auch den Elenden und Unwürdigen zuteilwurde.
»Ich möchte aber nicht zu George«, murmelte Tessa.
»Natürlich nicht, aber sein Geld und sein Titel würden dir eine Saison in London ermöglichen.«
»Ich möchte aber keine Saison in London. Du hattest auch keine, Mattie.«
»Damals hatte Vater auch noch nicht die Baronetswürde. Wärst du denn nicht gern in London? Würdest du dir nicht gern all die wunderbaren Dinge ansehen, von denen Clara erzählt hat?«
»Wer?«, fragte Ben.
»Miss DeLancey.«
Er lehnte sich zurück. »Wenn es dieser Miss DeLancey in den vielen Saisons nicht gelungen ist, einen Mann zu finden, sollte man Tessa vielleicht nicht zu etwas drängen, das sie gar nicht will.«
Mattie runzelte die Stirn. »Das klingt aber sehr unfreundlich der armen Miss DeLancey gegenüber, wenn du mich fragst.«
»So arm kann sie nicht sein, wenn sie sich mehrere Saisons in London leisten konnte. Eigentlich fragt man sich unwillkürlich, was wohl mit ihr nicht stimmt.«
»Benjamin!«
Tessa schüttelte den schimmernden Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich nach London will.«
»Hör nicht auf Ben. Es ist bestimmt schöner, als du jetzt denkst, mein Liebling.«
»Ich mag aber keine Menschenansammlungen und keinen Lärm.«
»Nur weil du noch so wenig erlebt hast«, sagte Mattie. »Sogar in Brighton wird es lebhaft, wenn der Prinzregent zurückkehrt.«
Tessa biss sich auf die Lippen, murmelte eine Entschuldigung und verließ das Zimmer.
»Du sollst sie nicht ärgern, Ben.«
»Und du sollst sie nicht drängen.«
»Sie muss unbedingt selbstsicherer werden.«
Ein Bild der furchtsamen jungen Dame, mit der er zusammengeprallt war, erstand vor seinem geistigen Auge. Er schüttelte den Kopf. Gott bewahre, dass Tessa so unsicher wurde! »Das wird sie wohl kaum lernen, wenn sie sich immer hinter dir versteckt.«
Die Augen seiner Schwester blitzten auf. »Oder hinter dir!«
»Stimmt.«
»Und deshalb glaube ich, dass George mit seiner Gleichgültigkeit vielleicht genau der Richtige ist, ihr beizubringen, sich zu behaupten.«
»Wenn seine Gleichgültigkeit sie nicht umbringt«, sagte er. »Er kreist so sehr nur um sich selbst, dass er jemand, der ihm selbst nichts nützt, überhaupt nicht wahrnimmt.«
»Dann könnte es für beide von Vorteil sein.« Mattie nickte langsam.
»Und für dich auch. David ist ein sehr zuvorkommender Gastgeber, aber ich glaube nicht, dass er mit so vielen Kemsleys gerechnet hat, als er dir einen Antrag machte.«
»Du weißt doch, dass er Tessa liebt wie seine eigene Schwester.«
»Und wie die meisten frisch verheirateten Ehemänner wünscht er sich bestimmt, wir wären nicht hier.« Ben unterdrückte ein Seufzen. Sein Idyll in Brighton sollte wohl doch früher zu Ende gehen, als er geplant hatte.
»Aber Benjie, ich will dich nicht wieder verlieren. Du bist doch gerade erst zurückgekehrt.«
»Du würdest mich nicht verlieren. Ich wäre nur in London.«
»Ich vergesse manchmal, wie gut du London kennst.« Mattie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Bist du Miss DeLancey früher nie begegnet, als du noch in London warst?«
War er Miss DeLancey vielleicht tatsächlich begegnet? Bei einem seiner kurzen Ausflüge in die Londoner Gesellschaft? Wenn ja, hatte sie keinen großen Eindruck bei ihm hinterlassen.
»Das war vor fünf Jahren, Mattie. Seither ist viel geschehen.«
»Natürlich. Ich dachte ja nur.«
Vielleicht war Miss DeLancey nicht die Einzige, die wenig anziehend wirkte, dachte Ben ironisch, als ihm erneut die beiden Damen einfielen, die ihm selbst eindrucksvoll demonstriert hatten, dass er abschreckend war. Jetzt saß er da mit dem seltsamen Gefühl, an Land festzusitzen und gleichzeitig – mehr denn je – auf dem Meer des Lebens zu treiben.
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»Clara, mein Liebling«, die dicht bewimperten haselnussbraunen Augen des Grafen lächelten sie liebevoll an, »willst du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?«
Eine wunderbare Wärme erfüllte sie. Sie beugte sich vor und lächelte ihn glückselig an: »Ja.«
Sie würde eine Gräfin werden! Die Frau des bestaussehenden Mannes, den man sich vorstellen konnte. Verheiratet mit einem Kriegshelden. Einem Mann – oh, und was für einem Mann! –, der so viele ihrer Leidenschaften teilte. Tausend Bilder sangen in ihrer Seele. Der Graf, wie er sie zärtlich anlächelte. Der Graf, wie er mit ihr tanzte. Der Graf, wie er ihr Komplimente über ihre musikalische Begabung machte. Der Graf, wie er mit ihrer Familie speiste.
Durch die Decke drang die Kälte auf sie ein. Sie kniff die Augen zusammen, klammerte sich verzweifelt an die letzten Fragmente ihres Traums. Doch er war verschwunden, verdunstet wie Morgennebel in der Wärme der aufgehenden Sonne.
Und gleich darauf meldete sich wieder der vertraute Schmerz in ihrem Herzen. Wie hatte er sie nur abweisen können? Wie hatte er eine Landpomeranze, ein gesellschaftliches Nichts, der Tochter eines Viscounts vorziehen können? Ihr, die zu Londons gefeierten Schönheiten gezählt hatte? Ihr, die sich mit erlesenem Geschmack zu kleiden wusste, die Debrett’s Adelskalender auswendig konnte, die alles wusste, was eine wahre Lady wissen musste? Sie hätte ihm Kinder schenken können. Sie wäre die perfekte Frau für ihn gewesen. Es war ihrer beider Mütter sehnlichster Wunsch gewesen.
Eine Träne lief ihr über die Wange. Was stimmte bloß nicht mit ihr?
Die Zurückweisung lastete schwer auf ihrer Seele, ein Wirbel geisterhafter Erinnerungen und Bilder peinigte und verfolgte sie:
Der Graf, wie er mit seiner Frau zusammen lachte. Der Graf, wie er seine Frau in die Arme schloss. Der Graf, wie er das Haus, das Bett – alles! – mit der Frau teilte, die Clara hätte sein sollen.
Wie hatte er sich in ihr Herz hineinlächeln und sie dann ausrangieren können, als sei sie ein Nichts?
War sie plötzlich hässlich geworden? Kein Mann hatte sich seither in ihre Nähe gewagt. War sie einfach nicht liebenswert? Ihr Herz zog sich zusammen vor Schmerz. Würde es ihr überhaupt jemand sagen, falls es so war?
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