1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Sie schluchzte auf. Dann rollte sie sich auf die Seite, wischte die Tränen fort und starrte auf das fahle Licht der Morgendämmerung, das durch die halb geöffneten Vorhänge fiel. Warum hatte er Lavinia Ellison ihr vorgezogen?
Lavinia. Die Gräfin von Hawkesbury. Die Frau, die sie so lange gehasst hatte, bis sie das Gefühl hatte, ihr Herz sei ein schwarzes Loch, und sie hätte vergessen, wie man lebte.
Lavinia. Deren unverhoffte Güte letztes Jahr Claras Selbsthass noch vergrößert hatte. Monatelang hatte die Scham an ihrer Seele genagt und noch die letzten Reste von Selbstvertrauen untergraben. Sie hatte nichts; sie war nichts. Sie konnte sich kaum erinnern, wie es war, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Matilda und Tessa hatten es ihr zwar leicht gemacht, so zu tun, als sei sie nett, doch das lag nur daran, dass sie ihre Geschichte nicht kannten. Sobald sie sie kannten, würden sie sie ebenfalls schneiden, wie so viele andere. Außerdem erlaubte Mutter ihr nicht, ihre Bekanntschaft mit diesen Damen zu vertiefen, so nett sie auch sein mochten.
Das schwere Gewicht, das ihr das Herz abdrückte, wollte nicht weichen. Sie sah ihre Zukunft vor sich, eine Zukunft wie die letzten beiden Jahre, Jahre der Einsamkeit und Langeweile, Jahre der Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit. Würde sie je wieder leben und lachen können?
Das trübe Licht nahm langsam einen goldenen Schimmer an. Sie kniff die Augen zusammen. Heute musste Sonntag sein. Sie rechnete nach. Ja, heute war Sonntag. Ein Tag der Ruhe.
Sie setzte sich auf und rieb sich das verweinte Gesicht.
Ein Tag, an dem sie den seltsamen Wunsch verspürte, Matildas unausgesprochene Einladung anzunehmen und darauf zu bestehen, dass ihre Eltern sie in die Kirche begleiteten.
»Nun, Clara, ich kann nicht sagen, dass es mir gefällt, dass du uns hierhergeschleift hast, aber es scheint doch immerhin ein paar Leute zu geben, die es sich lohnt kennenzulernen.«
Bei Mamas Kommentar, so leise sie auch flüsterte, zuckte sie zusammen und blickte sich verlegen um. Die anderen Gottesdienstbesucher wechselten zwar ebenfalls hin und wieder ein Wort mit ihren Nachbarn, aber Clara hätte sich doch gewünscht, dass Matildas Mann nicht gleichzeitig versuchen würde, eine Predigt zu halten.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit nach vorn und zwang sich, ihm zuzuhören. Es dauerte ein Weilchen, bis es ihr gelang, ihre Gedanken am Abschweifen zu hindern. Gott wusste, dass sie ihn nicht behelligen wollte, aber vielleicht sagte der Pfarrer ja doch etwas, das es wert war, beachtet zu werden.
»… und deshalb hat unser Herr gesagt: ›Wer von euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen.‹« Mr McPherson sah seine Gemeinde an. »Gibt es hier irgendeinen Menschen, der von sich behaupten kann, er sei ohne Sünde?«
»Also wirklich! Der Mann hat Nerven, so etwas zu fragen.«
»Mutter«, flüsterte Clara, »die Leute können dich hören.«
»Dann lass sie doch! Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste.«
Außer vielleicht für die unkluge Reise letztes Jahr nach Hawkesbury House in Lincolnshire. Es war so schrecklich demütigend gewesen! Die Tapferkeit, welche die junge Gräfin in dieser für sie so schweren Zeit gezeigt hatte, hatte in schreiendem Kontrast zu der eisigen Kälte des Grafen gestanden, dessen eigene Mutter den Plan ausgeheckt hatte, der das eheliche Glück ihres Sohnes zerstören sollte.
Wieder schlug die Scham über ihr zusammen. Damals war ihr Hass auf Lavinia in sich zusammengefallen, die siedende Glut von Gefühlen in ihrer Brust war unter der Last von Mitleid und Demütigung erloschen. Ihr Eindringen in einer Zeit tiefsten Kummers war wahrhaft unverzeihlich gewesen. Völlig unbegreiflich war ihr jedoch, wie die junge Gräfin ihre Anwesenheit mit einer solchen Würde ertragen konnte. Woher hatte sie die Kraft dafür genommen?
Den Rest des Gottesdienstes nahm sie kaum noch wahr; die Fragen der Vergangenheit forderten ihre Aufmerksamkeit. Und dann befanden sie sich auch schon inmitten der Gottesdienstbesucher, welche die Kirche verließen, schüttelten dem Pfarrer die Hand und standen gleich darauf draußen unter den übrigen, eifrig plaudernden Gemeindemitgliedern und sprachen mit ein paar Bekannten unter einer alten Ulme.
»Miss DeLancey!« Beim Klang der Stimme drehte Clara sich um. Matilda lief auf sie zu. »Sie sind gekommen.«
»Wie Sie sehen.« Clara lächelte und stellte ihre Eltern vor. »Mrs McPherson ist die Dame, die ich am Freitag besucht habe. Ihr Mann hat heute die Predigt gehalten.«
Mutter beantwortete Matildas Knicksen mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. »Clara hat erzählt, Sie hätten einen Bruder, der in Chatham Hall wohnt. Ist er ein Baronet?«
»Ja.«
Der Argwohn auf Mutters Gesicht schien sich eine winzige Spur abzuschwächen. »Nun, das ist doch schon mal etwas, würde ich sagen.«
»Es ist etwas, würde ich sagen, wenn man Wert auf dergleichen legt.«
»Natürlich.« Mutter nickte. Sie schien den Schalk, der in Matildas Augen lauerte, gar nicht zu bemerken.
Bevor ihre freimütige neue Freundin etwas sagen konnte, das ihre neue Freundschaft gefährdete, warf Clara rasch ein: »Mutter, ich wollte Mrs McPherson und ihre Schwester eigentlich demnächst einmal zum Tee einladen.«
»Oh! Nun, ich weiß nicht …«
»Vielen Dank, Miss DeLancey, aber Tessa wird schon bald nach Kent zurückkehren.«
»Da siehst du.« Mutter war ganz offensichtlich erleichtert. »Wie schade!«
»Aber vielleicht könnte Mrs McPherson kommen, wenn sie nicht zu beschäftigt ist.«
Matilda lächelte. »Vielen Dank. Es ist mir ein Vergnügen.«
Ihr Lächeln wärmte eine kalte Ecke in Claras Herzen. Vielleicht musste man freundlich sein, um Freunde zu gewinnen. Und sie musste bei Gott etwas tun, um sich nicht immer stärker zu isolieren, so wie sie es in den letzten Monaten getan hatte. Sie setzten einen Tag und eine Stunde fest, dann wurde Matilda an anderer Stelle gebraucht.
»Also wirklich, hier herrscht ein Andrang, man könnte meinen, man sei in einem Londoner Ballsaal«, beschwerte sich Mutter. »Ich begreife gar nicht, wie so viele Menschen das Bedürfnis verspüren können, am Sonntag in die Kirche zu gehen.«
»Welchen Tag würdest du denn vorziehen, Mutter?«
»Sei nicht frech. Oh! Liebste Lady Osterley!«
Clara trat ein paar Schritte zur Seite. Ihre Mutter hatte keinen Blick mehr für sie, sie widmete sich ganz und gar einer der unverbesserlichsten Klatschbasen Brightons. Clara setzte ein höfliches Lächeln auf – es war nicht ratsam, es sich mit dieser Dame zu verscherzen – und wandte ihre Aufmerksamkeit dann den anderen Leuten zu. Anscheinend besuchte so ziemlich jeder, der in Brighton etwas galt, die Sankt-Nicholas-Kirche.
Nicholas.
Ihr Herz wurde schwer, ihre Gedanken kehrten zu dem Grafen zurück. Nicholas Stamford, der siebte Graf von Hawkesbury, die Liebe ihres Lebens.
Mit brennenden Augen versuchte sie, die Erinnerungen zu verscheuchen.
Und begegnete dem starr auf sie gerichteten Blick des Mannes, mit dem sie vor zwei Tagen zusammengeprallt war.
»Sie!«
Die hübsche Dame blinzelte, wandte den Blick ab und trat einen Schritt zurück, als suche sie Schutz bei den Grabsteinen, die auf dem Friedhof standen. Es wirkte, als wollte sie am liebsten erneut fliehen. Aber Ben konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Er war zwar nach den gesellschaftlichen Konventionen erzogen worden, doch im Moment war das seinem Verhalten nicht anzumerken.
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