Im Rahmen der Umsetzung des BTHG konzentriert sich die DHG mit ihren Standards zur Teilhabe auf fünf Handlungsfelder: Teilhabe und Assistenz; Teilhabe und Pflege; Individuelle Teilhabeplanung und Teilhabemanagement; Teilhabe im Sozialraum; Teilhabe am Arbeitsleben. Es ist beabsichtigt, diese Standards in einem fortlaufenden Prozess sowohl fortzuschreiben als auch um weitere Standards zu erweitern.
Bundesarbeitsgemeinschaft der Ausbildungsstätten für Heilerziehungspflege in Deutschland (BAG HEP) (2019): Qualifikationsprofil Heilerziehungspflege. Länderübergreifendes kompetenzorientiertes Qualifikationsprofil für die Ausbildung von Heilerziehungspfleger*innen an Fachschulen für Heilerziehungspflege. Online verfügbar unter: https://www.akademie-schoenbrunn.de/fileadmin/data_akademie/Berufliche_Schulen/HEP_HEPH/Qualifikationsprofil_fuer_Heilerziehungspfleger.pdf, Zugriff am 29.06.2020.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2013): Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmas.de/Share dDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-13-teilhabebericht.pdf?__blob=publicatio nFile&v=2, Zugriff am 30.07.2020.
Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Hrsg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Genf: World Health Organization.
Kopyczinski, W. (2016): Assistenz zur Selbstbestimmung. Fachliche und menschenrechtliche Grundlagen zur Assistenz von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Marburger Beiträge zur Inklusion 01. Marburg: Lebenshilfe Hessen.
Seifert, M. (2002): Menschen mit schwerer Behinderung in Heimen. Ergebnisse der Kölner Lebensqualität-Studie. In: Geistige Behinderung, 41 (3), 203–222.
5vgl. dazu die DHG-Schriften: www.dhg-kontakt.de/schriften/
6leistungsrechtlich als »Geistige Behinderung« bezeichnet
7DIMDI 2005
8Seifert 2002; vgl. auch Kap. 8 (Zielperspektive Lebensqualität) dieser Standards
9Die Verwendung des Begriffs »Menschen mit Behinderungen« ist hier und im Folgenden an der Bezeichnung des Personenkreises in der UN-BRK und im BTHG orientiert, die auf dem Behinderungsverständnis der ICF basiert. Im Teilhabebericht der Bundesregierung wird zwischen Behinderung und Beeinträchtigung unterschieden. Beeinträchtigung bezieht sich auf konkrete Einschränkungen, z. B. beim Gehen, Hören oder Sehen. »Erst wenn im Zusammenhang mit dieser Beeinträchtigung Teilhabe und Aktivitäten durch ungünstige Umweltfaktoren dauerhaft eingeschränkt werden, wird von Behinderung ausgegangen.« (BMAS 2013, 7).
10Pflegestärkungsgesetze 1, 2 und 3 (2014–2016); vgl. Kap. 4 (Teilhabe und Pflege) dieser Standards
11vgl. BAG HEP 2019: Qualifikationsprofil Heilerziehungspflege
12vgl. Kopyczinski 2016
Die DHG-Standards orientieren sich an Leitbegriffen, die im Bundesteilhabegesetz (BTHG) verankert sind und die fachliche Arbeit mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf bestimmen: Teilhabe, Selbstbestimmung, Personenzentrierung und Sozialraumorientierung. Sie werden im Folgenden kurz umrissen und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Arbeit mit dem Personenkreis erläutert.
Die »volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft« (participation) und die »Einbeziehung in die Gesellschaft« (inclusion) zählen zu den zentralen Grundsätzen der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (Art. 3 UN-BRK).
In der Fachdiskussion erweist sich Teilhabe als unscharfer Begriff, der – je nach Interessenslage – unterschiedlich interpretiert wird. Insbesondere in der Arbeit mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf wird das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft häufig missachtet. Separierende Unterstützungsstrukturen und Einstellungen von Entscheidungsträger*innen in Politik, Verwaltung und sozialen Diensten sowie tradiertes institutionelles Denken von Fachkräften erschweren die Umsetzung. Barrieren in der Umwelt verschärfen die Situation.
Der komplexe Wirkzusammenhang für die Realisierung von Teilhabe ist im bio-psycho-sozialen Modell der WHO dargestellt, das der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) zugrunde liegt. 13 Es zeigt die Wechselwirkungsprozesse zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und person- und umweltbedingten Kontextfaktoren auf, die Einfluss auf die Teilhabe an subjektiv bedeutsamen Lebenssituationen und Lebensbereichen haben. In diesem Modell wird Behinderung als Beeinträchtigung der Teilhabe definiert, als Ergebnis einer negativen Wechselwirkung zwischen den individuellen Voraussetzungen und den jeweils gegebenen person- und umweltbezogenen Bedingungen.
Dieses Verständnis von Behinderung hat im BTHG seinen Niederschlag gefunden:
»Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern.« (§ 2 Abs. 1 SGB IX).
Unter Bezugnahme auf die ICF nennt das BTHG neun Teilhabebereiche, die bei der Planung von Unterstützungsleistungen zu beachten sind und deren subjektive Bedeutsamkeit zu erkunden ist: Lernen und Wissensanwendung – Allgemeine Aufgaben und Anforderungen – Kommunikation – Mobilität – Selbstversorgung – Häusliches Leben – Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen – Bedeutende Lebensbereiche (Bildung, Arbeit, wirtschaftliches Leben) – Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
Die Konkretisierung dieser Bereiche lässt die Mehrdimensionalität des Begriffs Teilhabe erkennen. Er umfasst sowohl die individuelle Ebene im häuslichen und außerhäuslichen Bereich als auch die soziale, kulturelle, materielle, rechtliche und politische Ebene. Dabei kommen jeweils unterschiedliche Aspekte von Teilhabe zum Tragen: 14
• Teil-Sein als Ausdruck »der ungeteilten bürger- und sozialrechtlichen Zugehörigkeit zum ›Ganzen‹ der Gesellschaft und das Gefühl, in einer lokalen Gemeinschaft respektiert zu sein und gebraucht zu werden«;
• Teilhabe als »Einbeziehung in gesellschaftliche Aktivitäten und Entscheidungen, aber auch die Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern wie Sicherheit, Wohnung, Arbeit und Sozialen Leistungen«;
• Teilnahme als aktiver Aspekt, »der eine Aufforderung und die Chance enthält, die Bürgerrolle engagiert wahrzunehmen, Gestaltungsmacht und Möglichkeiten zu nutzen, die Lebensbedingungen im eigenen lokalen Lebensumfeld mitzubestimmen und durch eigene Ideen und Handeln zu bereichern«.
Als Ziel einer teilhabeorientierten Unterstützung formuliert das BTHG, »die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständig und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern« (§ 4, Abs. 1,4 SGB IX). Ausgangspunkt sind jeweils die persönlichen Wünsche und Interessen (§ 117 Abs. 1 SGB IX).
Auf den Alltag von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf bezogen sind die Inhalte der Teilhabebereiche der ICF jeweils zu spezifizieren. Bedeutsame Aspekte sind zum Beispiel:
1) Gelegenheit für Lernen und Entwicklung zu haben;
2) Anforderungen im Alltag bewältigen zu können;
3) mit anderen in (nonverbalen) Dialog treten zu können;
4) sich innerhalb und außerhalb des Wohnbereichs bewegen zu können;
5) bei der Selbstversorgung aktiv eingebunden zu sein;
6) an haushaltsbezogenen Aktivitäten beteiligt zu sein;
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