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4 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-16-teilhabebericht.pdf;jsessionid =8CE02DA5EF5244E1A90A223C461E7A83?__blob=publicationFile&v=9; Franz, D. & Beck, I. (2015): Evaluation des Ambulantisierungsprogramms in Hamburg. Forschungsbericht. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) Hamburg e. V. Hamburg. Online verfügbar unter: https://www.agfw-hamburg.de/download/Ambulantis ierung_Abschlussbericht_lang.pdf, Zugriff am 20.07.2020. oder den Ausschluss von der Teilhabe am Arbeitsleben, sogar aus den Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM).
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde nun nach Jahrzehnten wieder eine große Reform-Dynamik in Gang gesetzt. Ihre Leitmotive sind Teilhabe/Partizipation und Selbstbestimmung, im Mittelpunkt steht die möglichst unabhängige individuelle Lebensführung und ihre Durchsetzung basiert nun auf Rechten. Die UN-BRK zeigt klar auf, dass es sich bei Marginalisierungs- und Diskriminierungsprozessen zentral um Menschenrechtsverletzungen handelt und diese Konsequenzen erzwingen. Es besteht eine Verpflichtung, den Zustand der starren Verhältnisse, wie er sich auch in Benennungen des Personenkreises als ›die, die keiner haben will‹, widerspiegelt, zu überwinden. Dafür müssen aber die bisherigen Exklusionsrisiken und Problemstellen genau in den Blick genommen und die rechtlichen Normen und fachlichen Ansprüche auf die Situation besonders hoher sozialer Abhängigkeit und erschwerter Partizipation hin durchdekliniert werden. Menschen mit einem komplexen Unterstützungsbedarf fallen aus Struktur- und Handlungslogiken, die sich an engen, schematischen Vorstellungen von ›Hilfebedarf‹, ›Bedarfsgruppen‹ und ›Leistungstypen‹ orientieren, heraus; ihr Bedarf wird zum ›Schnittstellenproblem‹, z. B. zwischen Pädagogik und Therapie oder Pädagogik und Pflege. Aus organisatorischen Unterschieden, die durch die Bildung von Hilfebedarfsgruppen stark gefördert werden, können inhaltliche Unterschiede werden, nämlich zwischen ›Teilhabe‹ und ›Pflege‹ oder ›Betreuung‹; dies hat spürbare Folgen für Denkweisen und Handlungsprozesse der Leistungserbringung und in deren Folge für die Handlungsspielräume der Menschen, z. B. wenn ›Wohnpflegeheime‹ sich maßgeblich an Pflegestandards ausrichten und dort grundsätzlich kein zweites Milieu vorgesehen ist.
Die Corona-Pandemie hat Bruchstellen dieser Logik schonungslos offen gelegt und verstärkt: die Zwänge des Lebens und gesundheitlichen Risiken in zumeist nicht selbst gewählten Wohngruppen, die reduzierten sozialen Kontakte und die unzureichenden Teilhabemöglichkeiten, die sich mit Mängeln der Infrastrukturen vor Ort, z. B. dem Zugang zu gesundheitlichen und therapeutischen Angeboten, verbinden. Die Pandemie-Situation könnte zur Sicherung der überkommenen Strukturen beitragen, wenn nun das Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz und Teilhabe einseitig aufgelöst und nicht die Verluste an Optionen und Entwicklungsmöglichkeiten aufgearbeitet werden, sowohl für den Einzelnen als auch für ein ›Leben im Gemeinwesen‹. Die Chance für neue Entwicklungen liegt hingegen in einer konsequenten Individualisierung, die zuerst und der ICF folgend am Verständnis des Bedarfes ansetzt, aber weitergehend darauf zielt, die Handlungsspielräume für die Lebensführung zu erhöhen, und zwar anhand daraufhin bezogener flexibler, angemessener und wirksamer – also professioneller und fachlich kompetenter – Leistungen.
Die konstitutiven Spannungsfelder zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit, aber auch Sorge und Schutz, zwischen Wahlmöglichkeiten und Bindungen und Verpflichtungen lassen sich nicht auflösen, sie müssen und sie können gestaltet werden. Die DHG-Standards basieren auf der expliziten Auseinandersetzung mit diesen Spannungsfeldern und den bisherigen Bruchstellen und formulieren aus sozialrechtlicher und fachlicher Perspektive Anforderungen, was Unterstützung zur individuellen Lebensführung bedeutet. Sie setzen dabei am Kernproblem an: der Umsetzung der Person- und Sozialraumorientierung als den ›Schaltstellen‹ zur Verwirklichung der menschenrechtlichen Ansprüche. Sie stellen der Komplexität der Lebenslage ein komplexes, advokatorisches Assistenzkonzept bei, das auch im Fall der Angewiesenheit auf Stellvertretung und Deutung Kontrolle über das eigene Leben ermöglichen soll.
Die von der DHG vorgelegten Standards verbinden ausgehend von Zielbegründungen die Beschreibung der rechtlichen Normen mit fachlichen und wissenschaftlichen Wissensbeständen, Rahmenbedingungen und Anforderungen in einer Systematik, Tiefe und Breite, wie sie bisher nirgends vorgelegt wurde. Sie richten sich an alle im Feld Tätigen und Verantwortlichen im Sinne einer einzulösenden Agenda.
Hamburg, Januar 2021 |
Iris Beck |
1Möckel, A. (1988): Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 51
2Ferber, C. von (1972): Der behinderte Mensch und die Gesellschaft. In: W. Thimm (Hrsg.): Soziologie der Behinderten. Neuburgweier, S. 31
3Stinkes, U. (1998): Der Verband und die Erziehung schwer behinderter Kinder. In: A. Möckel (Hrsg.): Erfolg, Niedergang, Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen. München, S. 249–264.
4Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-16-teilhabebericht.pdf;jsessionid =8CE02DA5EF5244E1A90A223C461E7A83?__blob=publicationFile&v=9; Franz, D. & Beck, I. (2015): Evaluation des Ambulantisierungsprogramms in Hamburg. Forschungsbericht. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) Hamburg e. V. Hamburg. Online verfügbar unter: https://www.agfw-hamburg.de/download/Ambulantis ierung_Abschlussbericht_lang.pdf, Zugriff am 20.07.2020.
Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) engagiert sich seit nahezu 30 Jahren als berufsübergreifender und interdisziplinärer Fachverband für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf. Mit Aktivitäten wie Tagungen, Fachgesprächen, Expertisen, Stellungnahmen und DHG-Preis unterstützt die DHG innovative Ideen und Projekte, insbesondere zur Entwicklung inklusiver Wohnformen, zur Sozialraumorientierung, zur Quartiersentwicklung und für arbeitsweltbezogene Beschäftigungsangebote mit dem Ziel der Stärkung der Teilhabechancen.
DHG-Fachtagungen 5 zu Themen wie Selbstbestimmung und Assistenz, Hilfeplanung, Teilhabe, Sozialraumorientierung und Quartiersentwicklung boten in den vergangenen 20 Jahren ein Forum, um innovative Entwicklungen anzustoßen und voranzutreiben. Als Fachverband stellt sich die DHG nun der Aufgabe, Leitziele und Handlungsempfehlungen für Fachkräfte und Dienste der Behindertenhilfe zu entwickeln. Die folgenden Standards sind Ergebnis einer über zweijährigen Diskussion im Vorstand der DHG mit einem Kreis von Unterstützer*innen sowie eines Fachgesprächs im Rahmen der Mitgliederversammlung vom April 2018. Sie sollen Grundsätze und Handlungsempfehlungen für Methoden, Prozesse und Strukturen einer zeitgemäßen »guten Praxis« professioneller Unterstützung konkretisieren. Gerade im Prozess der Umsetzung und der Evaluation des Bundesteilhabegesetzes und damit der weiteren Entwicklung des neuen Teilhaberechts erscheint es notwendig und hilfreich, entsprechende fachliche Standards, fundiert durch wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse, zu formulieren.
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