Kein Wunder, dass wir als Schüler die Jugendmetropole Amsterdam gerne am Wochenende aufsuchten. Fußball à la Oranje bedeutete auch lange Haare und das Trikot über der Hose, und Johan Cruyff hätte unsere Lehranstalt sicherlich nicht nur fußballerisch bereichert.
Seinen politisch bedeutendsten Auftritt zelebrierte Cruyff am 17. Februar 1974 im Estadio Bernabéu zu Madrid, als er den FC Barcelona zu einem furiosen 5:0-Sieg über Real, das ‚Regime-Team’, führte. Für Millionen Spanier und Katalanen war dieser Tag der Anfang vom Ende der Franco-Diktatur. In Barcelona erlangte Cruyff durch dieses Spiel den Status eines Heiligen – bei mir ebenfalls. Cruyff schlug auch Marx, Lenin und Che Guevara um Längen. Libuda mag Gott umdribbelt haben (,Keiner kommt an Gott vorbei – außer Libuda‘), aber Cruyff ließ sogar Marx stehen.“
De facto war natürlich alles anders. Politisch war Cruyff eher konservativ. Ein Revolutionär war er nur auf dem Fußballfeld und wenn es um eine angemessene Bezahlung der zunächst von den Verbänden und Vereinen ausgenutzten Fußballprofis ging.
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Als ich Freunden und Kollegen über mein Vorhaben eines Buches über Johan Cruyff erzählte, waren die Reaktionen geteilt. Die einen waren begeistert, erinnerten sich an die WM 1974 und an das „Dream-Team“ des FC Barcelona von 1992. Die anderen, und das waren nicht wenige, sahen Cruyff vor allem als ein „arrogantes, selbstgerechtes und geldgieriges Arschloch“ und „permanenten Nörgler“. Mein wesentliches Motiv für dieses Buch war das Gefühl, dass Johan Cruyff anders ist als die anderen ehemaligen Weltklassefußballer, die mit ihm in einem Atemzug erwähnt werden. Anders als Alfredo Di Stéfano, Franz Beckenbauer, Pelé oder Diego Maradona.
Denn Johan Cruyff hat mehr als nur großartige und erinnerungswürdige Auftritte hinterlassen. Cruyff hat die Entwicklung des Weltfußballs beeinflusst wie kein anderer der ehemaligen Großen. Er steht für eine bestimmte Idee vom Fußballspiel, eine höchst attraktive noch dazu. Diese hat ihren Ursprung im „Fußball total“ des Trainers Rinus Michels, der vielleicht letzten großen taktischen Revolution im Weltfußball. Viele Dinge, die heute im Fußball selbstverständlich sind, wie angreifende Verteidiger, Positionsspiel, Pressing und ein mitspielender Torwart, wurden in den Jahren 1965 bis 1974 eingeführt.
Michels „Fußball total“ konnte aber nur funktionieren, faszinieren und zur Nachahmung animieren, weil ihm mit Johan Cruyff ein Spieler zur Verfügung stand, der ein „totaler Fußballer“ und spielender Trainer war.
Als Spieler, Trainer und Berater war Johan Cruyff an einigen der faszinierendsten Teams der Fußball-Weltgeschichte beteiligt. Cruyff war die zentrale Figur des großen Teams von Ajax Amsterdam, das 1971 bis 1973 dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewann – im Übrigen das erste Mal im Wembley… Bei der WM 1974 in Deutschland war Cruyff Anführer der niederländischen Nationalmannschaft, die die Herzen der Fußballfans im wahrsten Sinne des Wortes im Sturm eroberte, auch wenn sie im Finale an Deutschland scheiterte. Als Trainer formte Johan Cruyff Barcelonas „Dream-Team“, als Berater war er nicht unbeteiligt an Barças Champions-League-Triumphen 2006, 2009 und 2011. Und dass Spanien nach über 40 titellosen Jahren 2008 Europameister und 2010 Weltmeister wurde, auch daran war Cruyff beteiligt. Denn Cruyff hatte über den FC Barcelona den spanischen Fußball verändert.
Wo immer sich die Gelegenheit bietet, fordert Johan Cruyff einen auf exzellenter Technik basierenden Offensivfußball, der sich nicht nach dem Gegner richtet. Und wo immer ein solcher gespielt wird, ist der Name Cruyff nicht weit. Kaum eine Diskussion über offensiven und attraktiven Fußball ohne die Erwähnung von Cruyff.
Cruyff ist der glaubwürdigste und entschiedenste Verfechter eines angriffslustigen und attraktiven Fußballs – und dies nun bereits seit über 40 Jahren.
Aber Johan Cruyff ist kein Gott und hat mitnichten immer Recht. Und schon gar nicht ist er in seinen Urteilen immer gerecht. Cruyff ist schroff und geht einem mit seinem Dogmatismus und seiner Nörgelei manchmal gehörig auf die Nerven.
Aber Cruyff ist wichtig für den Fußball: als Gralshüter und Prophet einer offensiven und unterhaltsamen Spielweise und als Kritiker jeder Form von Negativtaktik. Im Cruyff’schen Fußball will der Spieler immer den Ball haben und ist ein Fußballspieler. Für Cruyff ist guter Fußball ein Fußball, der den Spielern und den Zuschauern Spaß macht.
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Das vorliegende Buch erhebt nicht den Anspruch einer klassischen Biografie. Ein solches Vorhaben wäre anmaßend gewesen. Es ist ein Buch über einen Fußballfanatiker und eine Idee vom Fußball, in der sich der Autor wiederfindet. Weshalb mir der Leser verzeihen mag, wenn sich Cruyffs und meine Gedanken zuweilen etwas miteinander vermengen – bis hart an die Grenze des Erlaubten.
Dietrich Schulze-Marmeling, Mai 2012
Anmerkung zur Schreibweise:
Johan Cruyff wird eigentlich Johan Cruijff geschrieben. Unter diesem Namen wurde er nach seiner Geburt im Amsterdamer Personenstandsregister registriert. Zu „Cruyff“ wurde Cruijff erst im Zuge seiner internationalen Karriere. In den Niederlanden wird unverändert die ursprüngliche Schreibweise benutzt – also „Cruijff“. Im Ausland hingegen firmiert er, wie auch in diesem Buch, in der Regel als „Cruyff“.
Kapitel 1: Reden über Cruyff, die Niederlande und Barcelona
„Es war phantastisch! Cruyff war eine faszinierende Persönlichkeit.“
Lucien Favre
Das „Erweckungserlebnis“ des Lucien Favre
In der ersten Halbserie der Saison 2011/12 ist Borussia Mönchengladbachs Lucien Favre (Jahrgang 1957) der Trainer unter den Trainern der Bundesliga. Und dementsprechend als Interviewpartner begehrt. Zunächst hatte Favre den Gladbachern die Klasse erhalten – auf dem unkonventionellen Weg: Er verbesserte die Spielkultur des Teams. Anschließend absolvierte die Mannschaft ihre beste Hinrunde seit 15 Jahren. Nach einem souveränen 3:0-Sieg im rheinischen Derby beim 1. FC Köln taufte der englische „Guardian“ Favres Team „Borussia Barcelona“. Aber nicht der Blick auf die Bundesligatabelle, wo die Gladbacher nur drei Punkte hinter dem Spitzenreiter rangieren, führt mich zum Mönchengladbacher Borussia Park, sondern die Tatsache, dass Favre in seinen Interviews häufig auf Johan Cruyff zu sprechen kommt.
Die Schweizer Fußballannalen führen den 24-fachen Nationalspieler Lucien Favre als brillanten Techniker und intelligenten Spielmacher. Für die Medien war er der „Platini der Westschweiz“. Und wie Johan Cruyff hatte sich auch der schmalschultrige Favre mit überharten Gegenspielern zu plagen, die sein Spiel zerstören wollten. Seine Trainerkarriere begann er 1991 als Assistenztrainer bei den C-Junioren des FC Echellens. Der Ex-Profi wollte einen Fußballverein von der Basis aus kennenlernen.
Favre beschritt damit den „niederländischen Weg“. Anfang 2012 erklärt Jos Luhukay, der niederländische Trainer des Bundesligisten FC Augsburg, auf die Frage, warum niederländische Trainer so gefragt sind: „Ein Grund ist sicherlich, dass sich viele der sogenannten großen Trainer bereits sehr früh für ihren späteren Beruf interessiert haben. Sie fingen zunächst bei kleinen Vereinen an, waren im Jugendbereich tätig, lernten von der Pike auf. Sie haben dort die notwendigen Erfahrungen gesammelt. Und sich erst später für den nächsten Schritt entschlossen. Der führt dann in den Profifußball. Das ist, so glaube ich, sehr wichtig. Denn der Trainerberuf erfasst doch ein großes Spektrum.“
„Cruyff – das ist interessant, das macht Spaß“, eröffnet Lucien Favre das Gespräch. Spaß macht es aber vor allem, Favre zuzuhören. Der Mann lebt und denkt Fußball.
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