Alle diese Gedankengebäude waren längst etabliert, als Konstantin seinen Traum hatte. Sie waren Teil der Ausbildung, die die römische Elite – von adligen Grundbesitzern aufwärts – genoss und die zu diesem Zeitpunkt im gesamten Römischen Reich einigermaßen einheitlich war. Von Schottland bis zum Irak wurden jungen Leuten diese Ideen und Konzepte vermittelt, und alle genossen sie eine sprachlich-literarische Bildung in Latein und/oder Griechisch. Ihre Lehrer waren Grammatiker, Privatgelehrte, wie es sie in jeder größeren Marktstadt des Reiches gab und deren Bildungsprodukt die Conditio sine qua non für eine Aufnahme in die kaiserliche Elite war, sprich: für eine Chance auf eine profitable Karriere innerhalb der politischen und administrativen Strukturen des Kaiserreichs. Es gab gute und nicht so gute Grammatiker, guten und nicht so guten Unterricht, aber alle Grammatiker vermittelten die gleichen Grundwerte und -konzepte; sie waren ein fester Bestandteil des römischen Ausbildungssystems und sorgten über viele Tausend Kilometer hinweg für ein überraschend hohes Maß an kultureller Einheit. 7
Auf den meisten Ebenen passte Konstantins neue Religion in diese Gedankengebäude auffallend gut hinein. Der erste wirklich christliche Theoretiker des Römischen Reiches, Bischof Eusebius von Caesarea, erklärte noch zu Lebzeiten Konstantins, es sei kein Zufall, dass Christus während der Herrschaft des ersten römischen Kaisers, Augustus, zur Welt kam. Das Christentum und das Reich seien im Geiste des Göttlichen miteinander verbunden, und mit der Ankunft der christlichen Kaiser sei es Roms Schicksal, die gesamte Menschheit zum Christentum zu bekehren. In der christianisierten Version der althergebrachten römischen Ideologie war der Kaiser nicht weniger als der Stellvertreter Jesu Christi, der bis zu dessen Wiederkunft an seiner Stelle auf Erden regierte, und der römische Staat war der irdische Ausläufer des Himmelreichs. Jedes staatliche Ereignis galt als direkte verbale und zeremonielle Ausdrucksform dieser zentralen christlichen Ideologie, und eine sakrale Aura umgab die Person des Kaisers und seine Untergebenen. Alles war »heilig«, vom kaiserlichen Schlafzimmer bis hin zum kaiserlichen Finanzamt. 8
Die Gottheit, der so viel am Wohlergehen des Römischen Reiches lag, zum Gott des Alten und Neuen Testaments umzudeuten, war nicht allzu schwierig, doch es gab durchaus auch einige weiter reichende Veränderungen. Im vorchristlichen Reich beispielsweise hatte keiner so recht gewusst, ob der göttliche Plan auch die armen Landbewohner der römischen Welt (85 bis 90 Prozent der Bevölkerung) betraf, die keinerlei Zugang zu jenen Strukturen hatte, die einen Menschen zum vernünftigen Wesen machten, wie Bildung, Stadträte usw. Die Lehre des Christentums hingegen stellte ganz kompromisslos klar, dass jeder Mensch eine Seele habe und dass vor Gott das Heil jeder einzelnen Seele gleich wichtig sei. Aus diesem Grund galten in den entsprechenden Debatten der postkonstantinischen Zeit, soweit sie uns überliefert sind, immer häufiger nicht mehr die Bildung und die Teilhabe an der städtischen Selbstverwaltung als entscheidendes kulturelles Merkmal, das die vernünftige, von Gott geweihte römische Gesellschaft von ihren minderwertigen – »barbarischen« – Nachbarn unterschied, sondern die schriftlich festgelegten Gesetze.
In einer berühmt gewordenen Stelle bei einem römischen Autor verkündet der westgotische König Athaulf, er habe den Plan, das Römische Reich durch ein gotisches zu ersetzen, aufgegeben, weil seine Anhänger nicht in der Lage seien, sich an schriftlich fixierte Gesetze zu halten. Seine beste Option, fand er, bestand darin, das gotische Militär dazu einzusetzen, Rom zu unterstützen. Und bei einem anderen Autor bricht ein ehemaliger römischer Kaufmann, der inzwischen ein wohlhabender Hunne ist, in Tränen aus, als er sich daran erinnert, wie angenehm das Leben damals war, als sich die Menschen noch an das kodifizierte römische Recht hielten. Überhaupt kam das Erlassen von Gesetzescodices im poströmischen Westen einer Deklaration gleich, dass das eigene Gemeinwesen nun dem Club zivilisierter christlicher Nationen angehörte, selbst wenn diese Gesetze in der Praxis gar nicht zur Anwendung kamen. 9Gesetze eigneten sich dafür deshalb so gut, weil sie jeden Bürger, den Adligen wie den Bauern, innerhalb einer festgelegten Sozialstruktur verorteten. Das geschriebene Recht war eine Gabe Gottes, die dazu diente, allen Menschen den Platz zuzuweisen, der ihnen gebührte.
Das Christentum hatte auch einen Einfluss auf die religiöse Komponente des Berufsbilds des Kaisers. Die römischen Kaiser hatten schon immer auch eine religiöse Funktion gehabt; seit Augustus gebührte allein dem Kaiser der Titel Pontifex Maximus, und als solcher trug er letztendlich die Verantwortung dafür, dass die Götter dem Imperium gewogen waren. Dazu hielt er beispielsweise bestimmte Sühne-Rituale ab, wenn Omina (Vorzeichen) oder Ereignisse darauf hindeuteten, dass die Unterstützung der Götter ausblieb. Da es im Christentum bereits die »Fachleute« gab, die für alle Rituale verantwortlich waren, wurde schnell klar, dass der Kaiser nicht länger als bloßer Priester gelten konnte. Als Gottes Stellvertreter hatte er nach wie vor eine einzigartige Beziehung zum Göttlichen und behielt eine allumfassende religiöse Autorität. Genau das aber machte seine Beziehung zur christlichen Priesterschaft so kompliziert – Kaiser und Bischöfe brauchten eine gewisse Zeit, allein um auszuhandeln, ob und wie der Kaiser an einer öffentlichen Messe teilnehmen konnte, ohne dass seine religiöse Autorität von den Priestern kompromittiert wurde, die ganz offensichtlich Dinge tun konnten, die dem Kaiser nicht möglich waren. 10Es gab auch immer wieder christliche Führungspersönlichkeiten, die die religiöse Autorität des Kaisers in bestimmten Situationen hinterfragten. So sind mehrere Darstellungen von Heiligen und Bischöfen überliefert, die den Inhaber des kaiserlichen Throns zurechtwiesen. Ende des 5. Jahrhunderts verwendete Papst Gelasius in einem Brief an Kaiser Anastasios I. in Konstantinopel eine Metapher von zwei Schwertern, die suggerierte, dass sich die kaiserliche Autorität nicht auf das Heilige erstrecke. 11
Zu diesem Zeitpunkt musste sich Gelasius zumindest vor Ort in Rom schon nicht mehr mit einem Kaiser auseinandersetzen, denn die westliche Hälfte des Römischen Reiches war eine Generation zuvor bereits Geschichte. Spätrömische Kirchenmänner, so prominent sie auch sein mochten, hätten aber ohnehin nicht gewagt, dem Kaiser offen ablehnend zu begegnen. In privaten Briefwechseln mit ihren Anhängern ließen sie sich manchmal zu unverschämten Bemerkungen über einzelne Kaiser hinreißen, mit denen sie unterschiedlicher Meinung waren, aber insgesamt übten die Kaiser von Konstantin bis Justinian de facto und de jure Macht über die Kirche aus.
Tatsächlich setzte die Bekehrung Konstantins, was das Wesen und Wirken der christlichen Religion betrifft, eine Revolution in Gang, die mindestens ebenso umfassend war wie die Veränderungen, die die Strukturen und Ideologien des Imperiums durch das Zutun der Religion erfuhren. Man definierte wichtige Dogmen wie die Dreifaltigkeit, richtete neue Herrschaftsstrukturen ein, die die Rechte und Pflichten von Bischöfen, Erzbischöfen und Priestern definierten, und legte neue Regeln für religiöses und moralisches Verhalten fest.
Die Kaiser spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie beriefen große Konzilien ein, an denen theoretisch die Gesamtheit aller christlichen Kirchen teilnahm (daher der Begriff »ökumenisches Konzil«), führten dort den Vorsitz und legten sogar die Tagesordnung fest. Bei diesen Konzilien wurden viele der erwähnten Punkte beschlossen – die erste solche Zusammenkunft fand 325 in Nicäa statt.
Die ranghöchsten Kirchenmänner der spätrömischen Zeit waren die fünf Patriarchen: die Bischöfe von Rom, Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel. Vier dieser fünf Bischofssitze waren jeweils von einem der Apostel Christi gegründet worden (Konstantinopel war Bischofssitz, weil es als »neues Rom« dem alten Rom in nichts nachstehen sollte). Rom sah sich selbst als prestigeträchtigste dieser fünf Städte, aber die anderen vier teilten diese Ansicht nicht, und eine päpstliche Autorität, wie sie im Hochmittelalter entstand, existierte noch nicht. Dass nur der Kaiser ein ökumenisches Konzil einberufen konnte und die Patriarchen lediglich für regionale Konzile zuständig waren, zeigt noch einmal deutlich, welche religiöse Autorität der Kaiser besaß. In der Praxis erzwangen Kaiser auf den Konzilien Entscheidungen, ernannten hochrangige Kirchenmänner, und die Gesetze, die sie erließen, enthielten viele wichtige formelle Anordnungen für die Kirche. Der ambitionierteste formale Anspruch auf Autorität über die westliche Kirche aus spätrömischer Zeit unterstreicht diesen Punkt; es handelt sich um einen im Jahr 445 verfassten Text, der erklärt: »Nichts darf gegen oder ohne die Autorität der römischen Kirche getan werden.« Dass dies in der Praxis aber völlig ignoriert wurde, ist ein ganz wesentlicher Punkt – es sollte noch einmal siebenhundert Jahre dauern, bis diese Anordnung Wirkung zeigte; ein anderer ist, dass sie aus der Gesetzgebung des weströmischen Kaisers Valentinian III. stammt. In der Realität fungierte der spätrömische Kaiser als Oberhaupt der sich rasch entwickelnden christlichen Kirche (wie es die Auffassung des Kaisers vom göttlichen Ursprung seiner Autorität ja bereits nahelegt), und die Kirche selbst war im Großen und Ganzen eine Unterabteilung des römischen Staates. Mit anderen Worten: Die meisten Reichsbewohner, nicht nur kirchliche Amtsträger, akzeptierten nach wie vor, dass der Kaiser das Recht hatte, eine allumfassende religiöse Autorität auszuüben. 12
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