Und wieder behagten die Ruhe und das geregelte Leben dem tatendurstigen Mann in keiner Weise. Die Langeweile wurde ihm immer unerträglicher. Plötzlich lockten die weißen Flecken auf den Landkarten des afrikanischen Kontinents, die alte Unrast brach wieder hervor, und Rohlfs wollte reisen, forschen und entdecken. Man ließ ihn jedoch nicht ziehen, zu wertvoll war der europäische Arzt für die Spitzen der marokkanischen Regierung geworden.
Die Wende kam in Gestalt des englischen Gesandten in Marokko, Sir Drummond Hay, der am Hof großen Einfluss hatte. Der Sultan erhoffte sich von Großbritannien Hilfe gegen Spanien und Frankreich. Während eines Besuchs des Diplomaten in Meknès gelang es Rohlfs, bis zum Botschafter vorzudringen und ihm seine Pläne darzulegen. Als sich Sir Drummond schließlich für ihn einsetzte, erhielt er endlich die Erlaubnis, nach Belieben und ohne Einschränkungen das Land zu bereisen.
Die Berufung zum Afrikaforscher war Rohlfs nicht in die Wiege gelegt. Im Unterschied zu anderen deutschen Entdeckern seiner Zeit – Heinrich Barth etwa oder Eduard Vogel und Georg Schweinfurth – war Rohlfs kein studierter Gelehrter. Das geistige Rüstzeug eines reisenden Forschers musste er sich selbst in mühevoller Kleinarbeit aneignen.
Rohlfs ging für ein ganzes Jahr zurück zu seinem Freund Sidi el Hadsch Abd es Ssalam, dem Großscherif in Ouezzane, um mit bewundernswertem Eifer und Ehrgeiz seine Kenntnisse der arabischen Sprache und der Sitten, der Lebensart und Religion der Mohammedaner zu vervollständigen. Keinem anderen europäischen Forscher seiner Zeit ist es jemals gelungen, so vollkommen in die Lebensweise und Mentalität der nordafrikanischen Bevölkerung einzudringen und sich ihr in einer Weise anzupassen, dass er schließlich für einen Araber gehalten werden konnte.
Hier nun vollzog sich die Wandlung vom erlebnishungrigen Abenteurer zum ernsthaften Forscher, vom unruhigen Draufgänger und Luftikus zum Entdecker und seriösen Wissenschaftler, wenn auch sein einziges Instrumentarium, als er endlich seine erste Forschungsreise begann, lediglich aus Notizbuch und Bleistift bestand.
Sein Reisebegleiter und Diener war ein spanischer Renegat, welchen Rohlfs angeheuert hatte; zum Transport der wenigen Habseligkeiten kaufte er sich einen Esel. Er zog die Küste entlang südwärts durch Casablanca bis Azzemour, besuchte von hier aus Marrakesch im Landesinneren und wandte sich wieder der Küste zu. In einem Zeltdorf verschwand eines Nachts der Spanier, mit ihm der Esel, das Gepäck und der größte Teil des ersparten Geldes. Rohlfs befand sich in einer ähnlichen Situation wie bei seiner Ankunft im Lande. Und wieder gab er nicht auf, kehrte nicht um, was ein Leichtes gewesen wäre, sondern setzte seinen Weg nach Süden fort. Von Fieberanfällen geschüttelt, gegen welche er keine Medikamente mehr besaß, erreichte er die Hafenstadt Agadir, wandte sich von hier gegen Osten, überstieg die Ausläufer des Atlas und schloss sich einer Karawane nach Taroudant an. Zum Fieber gesellte sich noch eine ruhrartige Darmerkrankung, die ihn wochenlang in diesem Ort festhielt. Mit einer großen Karawane, in der er, um sich seine Mahlzeiten zu verdienen, als Kameltreiber fungieren musste, gelangte er schließlich ins Wadi Draa und von hier zur Oase Tafilalt. Durch eifriges Herumdoktern hatte er sich wieder eine kleine Summe erworben, allerdings den Fehler begangen, dieses Geld dem Scheich der Oase Boanen zu zeigen, dessen Gast er war und mit dem er zehn Tage lang aus der gleichen Schüssel gegessen hatte. Auf der Weiterreise wurde Rohlfs überfallen und beinahe getötet, wie es eingangs geschildert wurde.
Nach längerem Aufenthalt in einem französischen Militärspital traf er in Algier seinen Bruder Hermann, der ihn jedoch nicht überreden konnte, mit ihm in die Heimat zurückzukehren. Eine beispiellose Hartnäckigkeit ist Rohlfs wohl nicht abzusprechen. Jeder andere an seiner Stelle hätte wohl genug von afrikanischen Abenteuern gehabt. Der Kontinent ließ den frischgebackenen Entdeckungsreisenden jedoch nicht mehr los. Die Berichte über die erste Reise seines Bruders in der Tasche, fuhr Dr. Hermann Rohlfs allein zurück nach Deutschland, wo die Tagebücher und Aufzeichnungen, wenn auch noch höchst unvollkommen und wissenschaftlichen Kriterien kaum genügend, in die Hände Petermanns gelangten, der sie in seiner Zeitschrift »Mitteilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt« sofort veröffentlichte.
August Petermann, der große Geograph, Initiator und Förderer zahlreicher Forschungsreisen, dessen Ziel es war, die Erkundung Afrikas voranzutreiben, der stets auf der Suche nach fähigen Männern war und es auch immer wieder verstand, die notwendigen Mittel für die von ihm protegierten Reisenden aufzubringen, erkannte sogleich die Talente des Gerhard Rohlfs.
Inzwischen hatte die französische Regierung eine Prämie von achttausend Franc für denjenigen Reisenden ausgesetzt, dem es gelänge, von Algerien aus auf dem Weg durch die Sahara die legendäre Wüstenstadt Timbuktu zu erreichen, um von dort aus in die zweite Kolonie Frankreichs, den Senegal, zu gelangen. Für den Tatendrang Rohlfs’ war dieses Projekt wie geschaffen. Allerdings galt dieser Preis nur für französische Staatsbürger, und dass Rohlfs sich spontan bereit erklärte, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wurde ihm später in der Heimat übel vermerkt. Das Vorhaben der Naturalisierung zerschlug sich jedoch, und hier sprang nun Petermann, den die Idee ebenfalls begeisterte, mit finanzieller Unterstützung ein. Auch sein Bruder Hermann, der eine gut gehende Praxis in Bremen betrieb, stellte eine ansehnliche Summe zur Verfügung.
Im August 1863 brach Rohlfs zu seiner zweiten Forschungsreise auf, diesmal besser ausgerüstet, auch mit den nötigen Instrumenten für wissenschaftliche Beobachtungen. Von Algier aus wollte er über den Sahara-Atlas nach Tuat, wurde aber bald wieder zur Umkehr gezwungen. Im Süden der jungen französischen Kolonie waren neue Unruhen ausgebrochen, die eine Sahara-Durchquerung in gerader Richtung unmöglich machten. Rohlfs ging zurück zur Küste, schiffte sich in Oran nach Tanger ein, wo ihn wieder Sir Drummond Hay mit seinem Einfluss unterstützte, besuchte in Ouezzane nochmals seinen Freund, den Großscherif, und nahm dort seinen Marsch gegen Süden auf. Als erster Europäer überquerte er den Hohen Atlas, ein Wagnis, auf das wegen der räuberischen Bergbewohner selbst die Marokkaner nur in riesengroßen Karawanen eingingen, kam unter unsäglichen Strapazen wieder nach Tafilalt, welches er von seiner ersten Reise her kannte, und zog weiter südlich nach den Oasengruppen von Tuat und Tidikelt. Das Reisen war jetzt erheblich schwieriger, da Rohlfs Messungen vornehmen und seine Beobachtungen regelmäßig notieren musste. Verschiedentlich für einen französischen Spion gehalten, konnte er oft nur mit Mühe die Angriffe gegen seine Person abwehren. Überdies erschwerten Stammesfehden in Südmarokko seine Tätigkeit. Wiederum betätigte er sich häufig als Arzt, dieses Mal nicht um Geld zu verdienen, sondern um den Argwohn der Bevölkerung zu zerstreuen.
Zu In Salah, dem Hauptort der Oasen des Tidikelt, ging sein Geld zur Neige. Rohlfs konnte die Miete für die notwendigen Kamele bis Timbuktu nicht mehr aufbringen, überdies sollte die nächste Karawane in den tiefen Süden erst nach Monaten abgehen; und zu allem Überfluss herrschte Krieg und Hungersnot in der Stadt am Niger. Der ehrgeizige Plan der Sahara-Durchquerung war zumindest vorläufig gescheitert, wenn auch nicht für alle Zeiten aufgegeben.
Rohlfs wandte sich nach Nordosten und erreichte über Rhadames bei Tripolis wieder die Küste des Mittelmeeres. Gerade dieser Teil seiner Reise sollte – zusammen mit seiner Beschreibung der Tidikelt-Oasen – vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet der wertvollste werden, weil Rohlfs auf noch nie von Europäern betretenen Wegen quer durch die Wüste zog und mit seinen Aufnahmen und Beobachtungen einen ganz wesentlichen Beitrag zur präzisen Kartographierung Nordafrikas leistete.
Читать дальше