Nordenskiöld betrat mit seiner Reise somit keineswegs unerforschtes Neuland, aber es gelang ihm als Erstem, die Passage in ihrer ganzen Länge zu befahren, eine Leistung, die auch aus heutiger Sicht zu den großen Forschungsfahrten zählt. Denn selbst im Zeitalter moderner Schiffe und starker Maschinen ist die Durchquerung der Nord-Ost-Passage noch heute ein riskantes Unternehmen und nur mit Unterstützung starker Eisbrecher zu bewerkstelligen.
DIE NORD-OST-PASSAGE HEUTE
Obwohl die Sowjetunion alle Anstrengungen unternahm, das mit Bodenschätzen reich ausgestattete Sibirien zu entwickeln, geht die Besiedlung der riesigen Region infolge des unwirtlichen Klimas nur langsam vonstatten. Als Leitlinie der Erschließung dient dabei jedoch nicht der nördliche Seeweg, sondern der Schienenstrang der transkontinentalen Eisenbahnen, denn nur er gewährleistet auch im tiefsten Winter eine sichere Verbindung mit den Industriezentren im Süden des Landes. Nicht von ungefähr liegen über die Hälfte aller Städte mit mehr als hunderttausend Einwohnern an der Transsibirischen Bahnlinie. Die bisher noch seltenen größeren Siedlungen nahe der Küste, wie Norilsk unweit der Jenissej-Mündung, verdanken ihre Existenz ausschließlich Bodenschätzen, die keine Transportprobleme aufwerfen, darunter Buntmetalle und vor allem Erdöl und Erdgas, das durch Pipelines abtransportiert wird. Durch das langsame, aber stetige Vordringen der Siedlungsgrenze in Richtung auf die Küsten des Polarmeeres gewinnt die Versorgung über See zunehmende Bedeutung. Dennoch ist die Seefahrt auch hundert Jahre nach Nordenskiölds denkwürdiger Reise noch immer ein höchst risikoreiches Unternehmen. Trotz moderner eisgehender Schiffe und riesiger atomgetriebener Eisbrecher treten durch plötzlichen Wetterwechsel immer wieder bedrohliche Situationen auf, in denen ganze Konvois vom Eis eingeschlossen werden und aus der Luft versorgt werden müssen. Den größten Teil des Jahres muss die Seefahrt eingestellt werden, sodass die Bedeutung der Nord-Ost-Passage in dem Maß abnehmen wird, in dem die Erschließung der binnenländischen Infrastruktur durch die Ausweitung des Bahn- und Straßennetzes Fortschritte macht.
In der großen Zeit der Forschungsreisen, besonders zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert, war es üblich, dass die Ergebnisse der Expeditionen nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen ihren Niederschlag fanden, sondern zumeist auch in Form eines Reisetagebuchs der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurden, die in jener Zeit großen Anteil an der Erkundung der Erde nahm.
So war es auch für Nordenskiöld nach seiner Rückkehr selbstverständlich, seine Erlebnisse mit der Vega möglichst schnell auf den Markt zu bringen. Bereits am 9. Juli 1881 lag der erste Band vor, knapp drei Monate später der zweite. Im Jahr 1882 erschien auch die deutsche Übersetzung bei Brockhaus, auf die bei der Bearbeitung zurückgegriffen wurde. Das Reisewerk, das heute zu den gesuchten Raritäten zählt, zeichnet sich durch eine überaus umfangreiche Illustration aus: Fünfhundert Stahlstiche und neunzehn Karten begleiten den Text. Da die Bände zusammen fast eintausend Seiten enthalten, war es nicht immer leicht, die richtige Auswahl zu treffen, ohne die Aussagekraft einzuschränken.
Da Nordenskiöld durch seine enge Beziehung zur Geschichte und aufgrund seiner umfangreichen Sammlung historischer Reisebeschreibungen immer wieder historische Rückblicke auf die Erforschung der von ihm bereisten Regionen einflocht, bot sich hier noch am ehesten die Möglichkeit zur Kürzung. Die Geschichte der Nord-Ost-Passage wurde stattdessen in einer kurzen Zusammenfassung in die Einleitung übernommen. Auch die zahlreichen naturwissenschaftlichen Ausführungen, insbesondere über Flora, Fauna und Geologie, erfuhren eine Kürzung. Die Schreibweise der Namen wurde, soweit möglich, aktualisiert, die uns manchmal etwas »verschnörkelt« klingende Ausdrucksweise jedoch unter Beachtung zeitgemäßer Rechtschreibregeln beibehalten, um dem Werk nicht seine Authentizität zu nehmen. Die in eckige Klammern gesetzten Anmerkungen bzw. Ortsnamen in moderner Schreibweise sind vom Herausgeber eingefügt, eventuell unklare Begriffe sind in einem Glossar am Ende des Buches erläutert.
Hans-Joachim Aubert
Am 21. Juli war die ganze Ausrüstung der Vega an Bord, ihre Mannschaft vollzählig und alles zur Abfahrt bereit, und an demselben Tage um 2 Uhr 15 Min. nachmittags lichteten wir den Anker und traten unter lebhaften Hurrarufen einer zahlreichen am Strand versammelten Volksmenge in vollem Ernst unsere Eismeerfahrt an.
Nachdem wir Tromsö verlassen hatten, steuerten wir anfangs innerhalb der Schären nach der Insel Masö, in deren Hafen die Vega einen Aufenthalt von einigen Stunden nehmen sollte, um Briefe auf dem dortigen Postbüro, wahrscheinlich der nördlichsten Poststation der Welt, abzugeben. Während dieser Zeit erhob sich aber ein so heftiger Nordwestwind, dass wir drei Tage lang dort aufgehalten wurden.
Masö ist eine kleine, unter 71° nördl. Br., nur zweiunddreißig Kilometer südwestlich vom Nordkap, in einer fischreichen Gegend etwa in der Mitte zwischen dem Bred- und dem Magerö-Sund gelegene Felseninsel. An der östlichen Küste der Insel liegt zwischen den Felsen eine kleine Bucht, welche einen wohlgeschützten Hafen bildet. Fischfang und Hafen haben dem kleinen Ort auf dieser Insel eine gewisse Bedeutung gegeben und ihn zu einem der höchsten Außenposten nach dem Norden hin gemacht. Hier, in einer Entfernung von nur wenigen Kilometern von der Nordspitze Europas, gibt es außer zahlreichen Fischerhütten auch eine Kirche, einen Handelsladen, ein Postbüro, ein Krankenhaus usw., und ich brauche wenigstens für diejenigen, welche das nördlichste Norwegen bereist haben, wohl kaum hinzuzufügen, dass man hier auch verschiedene gastfreundliche Familien findet, in deren Kreis wir manche Stunde unseres unfreiwilligen Aufenthalts in dieser Gegend recht angenehm verplaudert haben. Die Einwohner des Ortes leben natürlich nur von Fischfang, da jeder Ackerbau hier unmöglich ist. Zwar haben Kartoffeln manchmal eine reichliche Ernte auf der nahegelegenen Insel Ingö gegeben, indessen misslingt ihr Anbau meistens infolge der Kürze des dortigen Sommers. Von wilden Beeren trifft man Preiselbeeren, jedoch nur in so geringer Menge, dass man nur selten ein oder zwei Liter einsammeln kann; Heidelbeeren kommen etwas reichlicher vor, und die norwegische Multbeere (eine kriechende Himbeerart), die Traube des Nordens, findet sich sogar außerordentlich reichlich.
In der Nachbarschaft des Nordkaps erstreckt sich der Wald jetzt nicht mehr bis an die Küste des Eismeers selbst, aber an geschützten, eine kurze Strecke innerhalb des Meeresbandes gelegenen Stellen trifft man schon vier bis fünf Meter hohe Birken.
Das Klima von Masö zeichnet sich nicht durch besonders strenge Winterkälte aus, aber die Luft ist beinahe das ganze Jahr hindurch rau und feucht. Die Gegend soll jedoch ganz gesund sein, bis auf den Umstand, dass der Skorbut, besonders während feuchter Winter, die ganze Bevölkerung heimsucht, sowohl die Gebildeten wie die Ungebildeten, die Reichen wie die Armen und alte Leute wie Kinder. Nach Angaben einer im Orte wohnenden Frau wird sehr schwerer Skorbut mittels eingemachter Multbeeren mit Rum geheilt. Ich führe diese Art der Anwendung der Multbeeren, dieses alten, wohlbekannten Heilmittels gegen den Skorbut, hier deshalb an, weil ich überzeugt bin, dass diejenigen zukünftigen Polarexpeditionen, welche hieraus eine Lehre ziehen wollen, finden werden, dass dieses Mittel wesentlich zur Gesundheit und zum Wohlbefinden aller Leute an Bord beiträgt.
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