Jetzt aber, noch nicht einmal in der Hälfte des 19. Jahrhunderts, zählte Sydney bereits 100 000 Einwohner, die alle anscheinend nur eines vorantrieb: die Jagd nach Geld, Geld und wieder Geld! Ludwig Leichhardt nahm sich in dieser Gesellschaft wahrscheinlich lächerlich genug aus, weil er nicht nach Spekulationswerten fragte, sondern den erst eben neu angelegten Botanischen Garten aufsuchte. Er hatte erfahren, dass dessen Direktorstelle gerade zu dieser Zeit unbesetzt stand, und er bewarb sich um diesen Posten. Doch die Stadtverwaltung von Sydney lehnte seine Bewerbung ab – wahrscheinlich, weil sie dem eben erst zugewanderten Deutschen zu wenig vertraute.
Doch wie es sich bald erweisen sollte, war gerade diese Abweisung wieder für seine Zukunft entscheidend. Denn wäre nun Leichhardt als ausreichend dotierter und bald angesehener städtischer Beamter für lange Zeit in dieser Stadt festgebunden worden, wäre er vielleicht niemals mehr zum ständig nach neuen Wildnissen und unentdeckten Einsamkeiten suchenden Buschläufer gereift.
»Buschläufer« galt damals noch als verächtliches Schimpfwort für einen aus dem streng umgitterten Arbeitslager entsprungenen Häftling. Von Zeit zu Zeit gelang einem solchen die Flucht in den »scrub«, ins unerforschte Buschland des Inneren. Ein solcher konnte nur als Fallensteller sein Leben fristen, oder er überfiel ab und zu eine einsam gelegene Schaffarm und plünderte diese aus. Die berittene Polizei war aber stets solchen Buschläufern auf den Fersen. Wegen bloßen Diebstahls wurden sie nach einer harten Prügelstrafe wieder in einen streng bewachten Arbeitstrupp eingegliedert. Wer jedoch einen Mord auf dem Gewissen hatte, der wurde ohne Gerichtsverfahren an dem nächsten Baum aufgeknüpft.
Mit den Jahren aber änderte sich allmählich die Bedeutung dieses Namens, und Buschläufer wurde ein jeder genannt, der in das grenzenlose Land hinter den Blauen Bergen trampte und dort als Schafhirt oder auch nur als Jäger leben wollte.
Ludwig Leichhardt wurde durch die Abweisung seines ersten Ansuchens noch nicht entmutigt. Er trug aus England einen Empfehlungsbrief an den Chef der Landvermessung von Neu-Südwales, Sir Thomas Mitchel, bei sich. Und gerade Landvermesser zu werden, erschien ihm als der günstigste Beruf, später in das Innere Australiens zu gelangen. Doch das offizielle Australien schenkte ihm kein Vertrauen. Sein Gesuch um Anstellung wurde hier ebenso abgelehnt wie das erste am Botanischen Garten.
Leichhardts unverändertes Ziel war und blieb der unbekannte Kern der riesigen Landmasse Australiens, die damals noch im völligen Dunkel des Unbekannten lag. Als erforscht galt nur der südliche Zipfel des Kontinents und ein schmaler Küstenstreifen im Osten und Westen des Erdteils. Wohl hatten sich schon Expeditionen auch in diese »Terra incognita«, das unbekannte Land, hineingewagt, aber diese mussten wieder umkehren, wenn sie kein Wasser mehr fanden, wenn ihre mitgeführten Lebensmittel zu Ende gingen oder gar feindselige Eingeborene, Aborigines, sie mit Pfeilschüssen aus dem Hinterhalt oder im offenen Überfall zurücktrieben. Wer aber nicht mehr zurückkehrte, der war mit Sicherheit verdurstet, wenn nicht von den wilden kannibalischen Schwarzen getötet und vielleicht sogar verzehrt worden …
Ludwig Leichhardt als »Buschläufer«
Der englische Offizier Robert Lind, mit dem sich Leichhardt bei der Überfahrt angefreundet hatte, nahm ihn für einige Monate in seine Wohnung in Sydney auf. Anfang September reiste Leichhardt dann mit einem der neuen Dampfschiffe 120 Kilometer weit nordwärts nach Newcastle am Hunterfluss. Schon in Sydney hatte er den Farmer Walker Scott getroffen, der ihn zu einem längeren Aufenthalt einlud. Walker besaß über 20 000 Schafe auf seinen unendlichen, noch kaum vermessenen Weiden, und diese Zahl vermehrte sich durch den natürlichen Geburtenzuwachs noch ständig. Leichhardt wurde in Glenton weit hinter der Küste von Newcastle von Scott so freundschaftlich aufgenommen, dass er sich von diesem Tag an in Australien zu Hause fühlte. Nach den Gewitterstürmen des beginnenden Frühlings leuchtete Anfang Oktober die australische Landschaft blütenreich und grün. Die verdorrten Weideflächen und der verwelkte Busch hatten sich fast über Nacht in einen blühenden Garten des Paradieses verwandelt.
Aber Leichhardt hielt auch hier wieder das tatenlose Herumhocken nicht lange aus. Die unbekannten Berge der Liverpool-Range im fernen Westen der Farm verlockten ihn bald zu einem längeren Ausritt. Vor dem für mehrere Wochen geplanten Ritt hatte er sich noch eingehend mit dem Buschleben der Schafhirten und der Zedernholzfäller in den Bergwäldern vertraut gemacht. Zu Fuß wanderte er tagelang ohne Zelt und Waffe durch den Busch und lebte völlig auf sich gestellt von getrocknetem Schaffleisch in seinem Rückenpack, ausgerüstet mit nur einem Feuerzeug in der Tasche und einem verbeulten Kochkessel. Als studierter Geologe erkundete er dabei auch die Gesteinsschichten und führte ständig einen gar nicht so leichten Gesteinshammer mit sich.
Einmal rettete ihm dieser Prüfhammer sogar das Leben. Ein wild lebender Stier, der wohl einst seine Rinderherde verlassen und sie nicht wieder gefunden hatte, griff ihn plötzlich mitten im »scrub« mit dumpfem Gebrüll und gesenkten Hörnern an. Leichhardt rannte ohne Waffe um sein Leben. Der Stier aber war schneller. Er fasste Leichhardt auf seine Hörner und schnellte ihn in die Luft. Der Verfolgte sah schon sein Ende vor sich, von den breiten Hufen des wilden Tieres zu Tode getrampelt zu werden – da erinnerte er sich im Niederfallen des Hammers, den er noch in seiner Hand trug. In seiner Todesangst schlug er dem Stier mit aller Kraft auf die breite Stirn, dass dieser halb betäubt und dumpf brüllend zu Boden ging. Er rannte weiter, bis er endlich erschöpft auf einen niedrigen Baum klettern konnte. Der Stier folgte ihm nicht mehr.
Dieses Mal tat Leichhardt eine ausgiebige Rast in Scotts Schaffarm wohl. Sobald er sich kräftig genug fühlte, trat er zu Fuß den Marsch nach dem etwa 50 Kilometer fernen Mount Royal in den Liverpool-Bergen an. Nach drei Tagen Wanderung in den Bergen entdeckte er einen mächtigen hohlen Baum, der ihm für einige Wochen eine Wohnung wurde. Er lebte von Damper, einem harten, ungesäuert gebackenen Brotfladen, der wochenlang haltbar blieb. In der Nähe sprang eine klare Quelle den Berg herab; Zucker und Tee trug er bei sich. Mit jedem Tag fühlte er sich in der einsamen, großartigen Natur heiterer und innerlich freier werden. Wenn er abends in seine Baumhöhle zurückkehrte, kochte er sich noch Tee und kaute den steinharten Brotfladen dazu. Er wickelte sich in seine wollene Decke und schaute durch den offenen Baumspalt zu, wie sich die Sterne an dem unendlichen australischen Himmel entzündeten. Meistens weckte ihn schon gegen drei Uhr morgens die tief absinkende Nachtkühle. In diesen wachen Morgenstunden entwarf er den neuen Tagesplan der geologischen, zoologischen und botanischen Streifzüge, die er nach einer neuen Richtung wieder durchführen wollte.
Ein Mensch ohne Waffe, ohne böse Absicht wird bald im menschenleeren Busch als Freund aller Tiere und Vögel aufgenommen. So besuchten ihn neugierig bald jeden Morgen die tierischen Buschbewohner – der herrliche Leiervogel mit seinen Paradiesfedern, der dunkelfiedrige australische Truthahn, die blau schimmernde Lauftaube, manchmal sogar ein Wallaby, ein furchtlos äsendes Känguru. Über ihm flogen Schwärme schneeweißer Ibisse nach der dschungelfeuchten, tropischen Nordküste Australiens.
Leichhardt hatte stets gegen die empfindliche Morgenkälte mannslange Farne vor den Eingang seiner Baumhöhle gelehnt. Eines Nachts wirbelte der jähe Sturmstoß eines aufsteigenden Gewitters die noch nicht erloschene Glut des abendlichen Lagerfeuers vor der Baumöffnung jäh auf. Die längst schon dürren Farne fingen wie Zunder Feuer. Leichhardt blieb nur noch, mitten aus dem Schlummer geschreckt, die Zeit übrig, um durch den flammenden Baumspalt ins Freie zu springen. Ehe er noch etwas retten konnte, waren im Inneren sein Hut, sein einziges Hemd und sein Tagebuch mit allen täglichen Aufzeichnungen verbrannt. Anfangs lachte er trotzig zu dieser überstandenen Gefahr. Natürlich musste er nun die herrliche Wildnis verlassen. Bis er aber nach drei Tagen erschöpft und halb verhungert die Farm Glenton erreichte, hing ihm von dem ausgestandenen Sonnenbrand die Haut auf dem Rücken in Fetzen herab.
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