»Der Besitzerin des alten Hadley-Hauses«, sagte Reine-Marie.
Sie deutete in Richtung des stattlichen Hauses, das auf dem Hügel über dem kleinen Dorf thronte. Das Haus, in dem einst die »reichen Leute« gewohnt und auf das gemeine Fußvolk im Tal heruntergeblickt hatten.
»Ich habe die Baronin bei Timmer kennengelernt«, sagte Ruth.
»Und zu uns ist sie auch gekommen«, sagte Gabri. »Als wir die Pension aufgemacht haben.«
»Als Gast? Als Freundin?«, fragte Reine-Marie.
»Als Putzfrau.«
»Beeilen Sie sich«, rief Myrna und zog an Benedicts Arm.
Mercier war schon ein paar Schritte weitergegangen, aber Benedict war stehen geblieben, und Myrna hatte umkehren müssen, um ihn zu holen.
Es war, als würde sie zurück in ein in Flammen stehendes Gebäude laufen.
Ihr Gesicht war so kalt, dass die Haut brannte. Die Kälte war sogar durch ihre dicken Handschuhe gedrungen und biss sie in die Finger. Das grelle Sonnenlicht tat in den Augen weh.
Doch statt sich wie jeder vernünftige Québecer schnell ins Bistro zu flüchten, war Benedict stehen geblieben. Der Zipfel seiner rot-weißen Mütze hing bis auf den Boden, während er mit dem Rücken zu den Geschäften dastand und wie gebannt auf die drei riesigen schneebeladenen Kiefern und die Häuser rings um den Dorfanger blickte.
»Das ist wunderschön.«
Seine Worte kamen in einem Wölkchen aus seinem Mund, wie eine Sprechblase in einem Comic.
»Ja, ja, wunderschön«, sagte Myrna und zerrte an seinem Arm. »Jetzt kommen Sie endlich, oder muss ich Ihnen erst einen Tritt geben?«
Da sie gestern mitten im Schneesturm angekommen waren, sah Benedict Three Pines jetzt praktisch zum ersten Mal. Die alten Häuser. Den aus den Schornsteinen aufsteigenden Rauch. Die Hügel und Wälder.
Er stand da und bestaunte ein Panorama, das sich seit Hunderten von Jahren nicht verändert hatte.
Und dann wurde er weggezerrt.
Ein paar Minuten später war im Bistro ein weiterer Tisch vor das Kaminfeuer geschoben, und vor Myrna und Benedict stand ein Frühstück.
Inzwischen hatte sich auch Clara eingefunden.
»Wenn es beim Karneval auch so kalt ist, ziehe ich mich nicht aus«, sagte sie und rieb sich die Arme.
»Wie bitte?«, sagte Armand.
»Egal«, sagte Gabri. »Nicht wichtig.«
»Worüber habt ihr gerade geredet?«, fragte Clara und nahm einen Becher heißen Kaffee entgegen. »Ihr habt alle so betroffen ausgesehen.«
»Ruth ist dahintergekommen, wer Bertha Baumgartner war«, sagte Armand.
»Und?«
»Erinnerst du dich an die Baronin?«, fragte Gabri.
»Ja, klar. Wer könnte die vergessen?«
Clara ließ ihre Gabel sinken, und ihr Blick kreuzte sich mit dem von Ruth.
Dann ließ sie ihn weiter zu den Fenstern wandern. Aber sie sah nicht die Sonne, die auf die Eisblumen an den Scheiben schien. Sie sah nicht das unter tiefem Schnee begrabene Dorf und den unglaublich klaren blauen Himmel.
Sie sah eine rundliche ältere Frau mit kleinen Augen, einem breiten Lächeln und einem Mopp, den sie schwenkte wie ein Polarforscher, der im Begriff ist, seine Flagge zu setzen.
»Sie hieß Bertha Baumgartner?«, fragte sie.
»Du hast ja wohl nicht ernsthaft angenommen, dass sie ›Baronin‹ hieß, oder?«, gab Ruth zurück.
Clara runzelte die Stirn. Im Grunde genommen hatte sie nie darüber nachgedacht.
»Weißt du, warum sie Baronin genannt wurde?«, fragte Armand.
Sie sahen Ruth an.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Sie hat nie für mich gearbeitet.« Sie blickte zu Myrna. »Außer dir hatte ich nie eine Putzfrau.«
»Ich bin keine –«, setzte Myrna an, dann sagte sie: »Ach, egal.«
»Warum glaubst du dann, dass diese Bertha die Baronin ist?«, fragte Armand.
»Du hast doch gesagt, dass sie an der Straße nach Mansonville gewohnt hat?«, fragte Ruth, und er nickte. »Ein altes Farmhaus in der Nähe des Glen?«
»Ja.«
»Ich habe die Baronin mal da abgesetzt, als ihr Auto kaputt war, ist schon Jahre her«, sagte Ruth. »Scheint mir dieselbe Adresse zu sein.«
»Wie sah es aus? Kannst du dich erinnern?«
Natürlich konnte Ruth sich an alles erinnern.
Jedes Essen, jeden Drink, jeden Blick, jede Kränkung, echt, eingebildet und erfunden. Jedes Kompliment. Jedes gesprochene und unausgesprochene Wort.
All das formte sie um und verwandelte die Erinnerungen in Gefühle und die Gefühle in Gedichte.
Ich betete darum, gut und stark und klug zu sein,
um mein täglich Brot, und Vergebung
der Sünden, die von Geburt an mein sein sollen,
und der Schuld eines uralten Erbes.
Armand musste nicht lange darüber nachdenken, warum ihm gerade dieses Gedicht von Ruth, eins von ihren unbekannteren, in den Sinn kam.
»Das Haus war klein, ein bisschen verwinkelt, aber gemütlich«, sagte Ruth. »Kästen mit Stiefmütterchen vor den Fenstern und Blumenkübel links und rechts von der Treppe. Eine Katze, die sich gesonnt hat. Im Hof standen alle möglichen Fahrzeuge und landwirtschaftlichen Geräte rum, aber das ist auf alten Bauernhöfen ja immer so.«
Nachdem Armand das krumme Haus vom Schnee befreit und es geradegerückt hatte, konnte er es beinahe vor sich sehen. So wie es einmal gewesen war. An einem warmen Sommertag. Mit einer jüngeren Ruth und der Baronin.
»In letzter Zeit habt ihr sie nicht gesehen?«, fragte er.
»Seit Jahren nicht mehr«, sagte Gabri. »Sie hat aufgehört zu arbeiten, und wir haben den Kontakt verloren. Ich habe nicht mal mitbekommen, dass sie gestorben ist. Du?«
Clara schüttelte den Kopf und senkte den Blick.
»Meine Mutter war Putzfrau«, sagte Reine-Marie, die das, was in Clara vorging, richtig interpretierte. »Sie entwickelte eine enge Beziehung zu den Familien, für die sie arbeitete, solange sie für sie arbeitete. Aber danach verlor sie sie aus den Augen. Ich bin sicher, dass viele der Leute gestorben sind, ohne dass sie es wusste.«
Clara nickte, dankbar für den unausgesprochenen Hinweis darauf, dass so etwas von beiden Seiten ausging.
»Meinst du, wenn die Baronin Justin schreiben würde –«, setzte Gabri an.
»Nein.«
»Wie war sie?«, fragte Armand.
»Eine starke Persönlichkeit«, antwortete Olivier. »Sie hörte sich gern selbst reden. Sprach immer viel von ihren Kindern.«
»Zwei Jungen und ein Mädchen«, sagte Gabri. »Die tollsten Kinder der Welt. Wohlgeraten. Hübsch. Klug und freundlich. Wie ihre Mutter, sagte sie immer und lachte.«
»Und sie erwartete, dass wir sagten: ›Lachen Sie nicht, das stimmt.‹«, sagte Olivier.
»Und, habt ihr?«, fragte Reine-Marie.
»Wenn wir ein sauberes Haus wollten, ja«, sagte Gabri.
Clara sah die Baronin bei dieser Beschreibung vor sich. Meistens mit einem Lächeln. Manchmal herzlich und freundlich. Hin und wieder auch irgendwie listig. Aber niemals böswillig.
Es gab wohl kaum eine Frau, die weniger Ähnlichkeit mit einer Baronin hatte.
Clara erinnerte sich aber auch daran, wie energisch die Baronin Schrubber und Besen geschwungen hatte. Wie stolz.
Es hatte etwas Aristokratisches.
Clara fragte sich, warum es ihr nie in den Sinn gekommen war, die Baronin zu malen. Ihre kleinen funkelnden Augen, freundlich und fordernd zugleich. Listig, aber auch nachdenklich. Ihre abgearbeiteten Hände und das müde Gesicht.
Ein bemerkenswertes Gesicht, es spiegelte Großzügigkeit und Zorn wider. Herzlichkeit und Voreingenommenheit.
»Warum fragst du?«, erkundigte sich Gabri. »Spielt das eine Rolle?«
»Eigentlich nicht«, sagte Armand. »Es ist nur so, dass ihre testamentarischen Verfügungen ein bisschen seltsam sind.«
»Oooh, seltsam«, sagte Gabri. »Das gefällt mir.«
»Du meinst skurril«, sagte Ruth. »Seltsam kannst du nicht ausstehen.«
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