Louise Penny
Auf einem einsamen Weg
Ein Fall für Gamache
Roman
Aus dem kanadischen Englisch von Gabriele Werbeck und Andrea Stumpf
Kampa
Für Hope Dellon. Meine wunderbare Lektorin und gute Freundin. Whale oil beef hooked.
Armand Gamache fuhr im Schritttempo über die schnee- bedeckte Nebenstraße und hielt schließlich an.
Geschafft, dachte er. Er lenkte das Auto zwischen den hohen Kiefern hindurch, bis er die Lichtung erreichte.
Dort parkte er und blickte aus dem warmen Wageninneren in den kalten Tag hinaus. Schneeflocken segelten auf die Windschutzscheibe und schmolzen. Sie fielen jetzt schneller und erschwerten die Sicht. Gamache blickte auf den Brief auf dem Beifahrersitz, den er tags zuvor bekommen hatte.
Er rieb sich das Gesicht und setzte seine Lesebrille auf. Las ihn noch einmal. Er hatte ihn an diesen verlassenen Ort gebracht.
Er stellte den Motor ab. Stieg aber nicht aus.
Nervös war er nicht. Die Angelegenheit war weniger beunruhigend als rätselhaft.
Dennoch war sie so befremdlich, dass er alarmiert war. Nicht übermäßig, noch nicht. Aber er war auf der Hut.
Armand Gamache war kein ängstlicher Mann, aber er war vorsichtig. Wie sonst hätte er an der Spitze der Sûreté du Québec überdauern können? Allerdings war keineswegs sicher, dass ihm das tatsächlich gelungen war.
Er vertraute auf seinen Verstand und auf seine Instinkte.
Und was sagten sie ihm jetzt?
Sie sagten ihm ganz klar, dass diese Angelegenheit seltsam war. Aber das, dachte er mit einem Grinsen, hätten ihm auch seine Enkelkinder sagen können.
Er nahm sein Handy und hörte es unter der Nummer, die er gewählt hatte, einmal, zweimal klingeln, dann wurde abgehoben.
» Salut, ma belle , ich bin angekommen«, sagte er.
Zwischen Armand und seiner Frau Reine-Marie gab es die Abmachung, dass sie im Winter, wenn Schnee lag, einander Bescheid gaben, wenn sie unterwegs waren und ihr Ziel erreicht hatten.
»Wie war die Fahrt? In Three Pines schneit es immer stärker.«
»Hier auch. Aber ich bin gut durchgekommen.«
»Wo bist du eigentlich, Armand? Was ist das für ein Ort?«
»Schwer zu beschreiben.«
Er versuchte es trotzdem.
Vor ihm stand etwas, das einmal ein Zuhause gewesen war. Dann ein Haus. Und jetzt war es nur noch ein Gebäude. Und selbst das würde man nicht mehr lange sagen können.
»Es ist ein altes Farmhaus«, sagte er. »Es macht einen verlassenen Eindruck.«
»Bist du denn auch an der richtigen Adresse? Erinnerst du dich, wie du mich von meinem Bruder abholen wolltest und zu dem falschen Bruder gefahren bist? Und darauf bestanden hast, dass ich da sei?«
»Das ist doch schon eine Ewigkeit her«, sagte er. »Und die Häuser in Ste.-Angélique sehen alle gleich aus, und deine hundertsiebenundfünfzig Brüder sehen auch alle gleich aus. Außerdem mochte er mich nicht, und ich war ziemlich sicher, dass er mich einfach nur loswerden wollte und ich dich in Ruhe lassen sollte.«
»Das kann man ihm ja wohl kaum vorwerfen, schließlich warst du an der falschen Adresse. Du Meisterdetektiv.«
Armand lachte. Das war vor Jahrzehnten gewesen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Als ihrer Familie dann klar geworden war, wie sehr sie ihn liebte und, wichtiger noch, wie sehr er Reine-Marie liebte, hatte sie ihn doch noch ins Herz geschlossen.
»Ich bin schon richtig. Da steht noch ein Auto.«
Das andere Auto war von einer feinen Schneeschicht bedeckt. Er vermutete, dass es seit ungefähr einer halben Stunde dort stand, nicht länger. Dann sah er wieder zum Farmhaus.
»Hier hat schon lange niemand mehr gewohnt.«
Es dauerte eine Weile, bis ein Haus so verfiel. Das passierte nur, wenn sich jahrelang niemand darum kümmerte.
Bald würde es in seine einzelnen Bestandteile zerfallen.
Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, der hölzerne Handlauf war verfault und hatte sich verzogen, die Treppenstufen hingen durch. Eines der oberen Fenster war vernagelt, sodass es aussah, als würde ihm das Haus zublinzeln. Als wüsste es etwas, das er nicht wusste.
Er legte den Kopf schief. Konnte es sein, dass sich das Haus leicht zur Seite neigte? Oder verwandelte es seine Einbildungskraft in eins aus Honorés Schlafliedern?
Da war ein krummer Mann, der lief an einem krummen Straßensaum.
Fand einen krummen Stock, gelehnt an einen krummen Baum.
Kam eine krumme Katze, fing eine krumme Maus.
Und alle lebten zusammen in einem kleinen krummen Haus.
Das war ein krummes Haus. Unwillkürlich fragte sich Gamache, ob er darin auf eine krumme Sache stoßen würde.
Nachdem er sich von Reine-Marie verabschiedet hatte, sah er erneut zu dem anderen Auto im Hof und auf das Kennzeichen mit dem Motto von Québec: JE ME SOUVIENS .
Ich erinnere mich.
Wenn er wie jetzt die Augen schloss, tauchten unwillkürlich Bilder auf. So lebendig und eindringlich, wie der Moment selbst es gewesen war. Und nicht nur an jenem Tag im letzten Sommer, als die schrägen Sonnenstrahlen auf seine blutigen Hände gefallen waren.
Er sah all die Tage. All die Nächte. All das Blut. Seines und das anderer. Von Menschen, deren Leben er gerettet hatte. Und von jenen, denen er es genommen hatte.
Um sich seine geistige Gesundheit, seine Menschlichkeit, seine innere Balance zu erhalten, musste er auch die schönen Ereignisse in sich wachhalten.
Reine-Marie gefunden zu haben. Ihr Sohn, ihre Tochter. Jetzt die Enkel.
Ihren Zufluchtsort in Three Pines gefunden zu haben. Die ruhigen Stunden mit Freunden. Die heiteren Feste.
Der Vater eines guten Freundes war an Demenz erkrankt und vor Kurzem gestorben. In seinem letzten Lebensjahr hatte er seine Familie und seine Freunde nicht mehr erkannt. Zu allen war er freundlich, aber manche strahlte er an. Das waren diejenigen, die er instinktiv erkannte. Er hatte sie in seinem Herzen bewahrt, nicht in seinem beschädigten Kopf.
Das Herz bewahrte Erinnerungen sehr viel besser als der Kopf. Die Frage war nur, was die Leute in ihrem Herzen bewahrten?
Chief Superintendent Gamache hatte mehr als genug Leute kennengelernt, deren Herz von Hass zerfressen war.
Er sah auf das krumme Haus und fragte sich, von welcher Erinnerung es zerfressen wurde.
Nachdem er automatisch das Kennzeichen in seinem Gedächtnis abgespeichert hatte, wanderte sein Blick über den Hof.
Hier und da erhoben sich große Schneehaufen, unter denen sich offenbar rostige Fahrzeuge verbargen. Ein ausgeweideter Pick-up. Ein alter, inzwischen wohl schrottreifer Traktor. Und etwas, das wie ein kleiner Panzer aussah, wahrscheinlich aber ein alter Öltank war.
Hoffte er.
Gamache setzte seine Mütze auf und wollte gerade die Handschuhe überstreifen, als er zögerte und den Brief ein weiteres Mal in die Hand nahm. Nicht dass viel drinstand. Nur ein paar kurze Sätze.
Sie waren nicht bedrohlich, wären beinahe komisch gewesen, hätten sie nicht von der Hand eines Toten gestammt.
Der Brief war von einem Notar, der Gamache bat, geradezu befahl, sich um zehn Uhr morgens an diesem abgelegenen Haus einzufinden. Punkt zehn. Bitte. Seien Sie pünktlich. Merci.
Er hatte bei der Chambre des Notaires du Québec Erkundigungen über den Notar eingezogen.
Maître Laurence Mercier.
Vor sechs Monaten war er an Krebs gestorben.
Und doch war hier ein Brief von ihm.
Es gab keine E-Mail- oder Absenderadresse, nur eine Telefonnummer, unter der Armand angerufen hatte, aber niemand hatte abgehoben.
Beinahe hätte er die Datenbank der Sûreté nach Maître Mercier durchsuchen lassen, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Nicht dass Gamache Persona non grata in der Sûreté du Québec gewesen wäre. Also, nicht ganz. Da er jedoch suspendiert war, bis die Ermittlungen zu den Ereignissen im letzten Sommer abgeschlossen waren, wollte er die Hilfsbereitschaft seiner Kollegen nicht überstrapazieren. Auch nicht die von Jean-Guy Beauvoir. Seinem Stellvertreter. Seinem Schwiegersohn.
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