1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Da erhob sich ein Retter aus der Klasse der Literaten: Tsong Kuo Fan. Er erzählt, wie sie ihre langen Literatengewänder ausgezogen und Kriegerkleidung angelegt. »Ich ließ durch unsere jungen Gelehrten die Bauern befehligen um den Frieden des Reichs herzustellen«, sagt er einmal. So gelang es, des Aufstandes Herr zu werden und außer ihm noch andere gefährliche Bewegungen niederzuwerfen, die im Norden, Westen und Süden sich erhoben hatten. Bekanntlich waren bei der Niederwerfung dieses Aufstandes auch einige europäische und amerikanische Bandenführer in chinesischen Diensten tätig, über die der edle Gordon sowohl an Tüchtigkeit als auch an Charakter weit hervorragte. Die Taiping-Rebellen wurden von Position zu Position zurückgetrieben. Schließlich waren sie in Nanking eingeschlossen und es entspann sich nun das Schauspiel eines ausgehungerten religiösen Fanatismus, das in allen Stücken auf das merkwürdigste an das Los der Wiedertäufer in Münster erinnert.
Nun galt es, einmal die Trümmer des Reichs neu zu organisieren und andererseits Mittel und Wege zu finden zur Anpassung der chinesischen Welt an die neue Zeit und ihre Anforderungen. Das erste gelang mit bewundernswürdiger Schnelligkeit. Als die chinesischen Literaten in die Bresche getreten waren, taten sie es keineswegs aus sklavischer Unterwürfigkeit unter das landesfremde Geschlecht der Mandschus. Sie taten es, weil die Herrscher dieses Geschlechts sich mit der alten chinesischen Kultur identifiziert hatten. Man findet in der chinesischen Geschichte wenige Herrscher, die so groß und rein die wesentlichen Ideen des Konfuzianismus vertreten haben wie z. B. der Mandschuherrscher, der unter der Devise Kanghsi von 1662 bis 1723 das Reich regierte. Dass die Mandschus von diesen Grundsätzen einer hohen und strengen Staatsmoral abgewichen waren, hatte zum Zusammenbruch geführt. Nun galt es, das Reich nach diesen Grundsätzen neu zu organisieren. So ging der wesentliche Einfluss aus den Händen der vornehmen Mandschugeschlechter auf die Klasse der chinesischen Gelehrten über, die in Tsong Kuo Fan ihr geistiges Haupt verehrten. Die Größe der Kaiserin-Witwe war es, dass sie diese Bewegung stützte und förderte. Tsong Kuo Fan hatte in Tso Tsung T’ang, Li Hung Tschang u. a. Gehilfen, die mit bemerkenswerter Fähigkeit die schwere Aufgabe der Reorganisation des Reichs durchführten. Damals sind Dinge erreicht worden, die in der ganzen vieltausendjährigen Geschichte vergebens erstrebt worden waren. Durch das Wirken dieser Männer ist die Gefahr der Mohammedaneraufstände, die zu verschiedenen Malen den Bestand des Reichs bedrohten, endgültig beseitigt worden. Das große und zukunftsreiche Gebiet von Chinesisch-Turkestan kam unter dem Titel Sinkiang (Das neue Gebiet) unter die unmittelbare Verwaltung der Zentralregierung. Die Ureinwohner im Süden wurden endgültig zur Ruhe gebracht. Eine Zeit des inneren Friedens folgte, während der die Bevölkerung des chinesischen Reiches nach den besten zugänglichen Quellen auf eine bisher ungeahnte Höhe stieg. Man darf diese positiven Seiten nicht vergessen, wenn man sich von dem China des 19. Jahrhunderts, das sich den Europäern gegenüber immer wieder versagte, ein richtiges Bild machen will.
Die andere Aufgabe freilich, vor die die chinesische Regierung gestellt war, misslang. Tsong Kuo Fan lebte in den konfuzianischen Vorstellungen des chinesischen Mittelalters. Für ihn und die Seinen waren die westlichen Ideen, die im Taipingaufstand so unerwünschte Früchte gezeitigt hatten, etwas zu Meidendes. So fand er kein Verhältnis zu diesen Problemen. Li Hung Tschang, der ihm als Senior der Gelehrten folgte, hatte lässlichere Anschauungen. Er hatte schon während der Taipingrebellion Europäer kennengelernt, schätzte sie aber nicht hoch. Die Söldner waren geldgierig und roh gewesen. Der Einzige, der moralisch ganz auf der Höhe stand, war Gordon. Aber der schien ihm andererseits zu doktrinär, indem er kategorisch verlangt hatte, dass man auch einem Rebellen gegenüber unbedingt sein Wort halten müsse. Li Hung Tschang war in diesen Dingen eher ein Renaissancemensch und hatte die gefangenen Rebellen, die Gordons Ehrenwort hatten, ohne Zögern hinrichten lassen. Alles in allem war er der Meinung, dass das Problem der Anpassung an den Westen leicht zu lösen sei. Die europäischen Waffen hatten in den Kriegen der Westmächte gegen China und im Taipingaufstand ihre Überlegenheit gezeigt; es handelte sich also nur darum, europäische Waffen einzuführen, um die Bedürfnisse der Regierung zu decken. Es kam die Zeit der großen Waffenankäufe Chinas und der Anstellung fremder Militärinstruktoren, von denen mancher, wie z. B. Faltenhayn, sich später einen Namen gemacht hat. In jener Zeit wurde die Marineschule in Futschou und das Arsenal in Schanghai2 gegründet. Damals wurden von seiten des Schanghaier Arsenals auch die ersten Bücher über westliche Wissenschaften ins Chinesische übersetzt. Diese Übersetzungen lassen freilich sehr viel zu wünschen übrig, ganz ähnlich wie die ersten Übersetzungen von Missionaren, aber sie waren wenigstens ein – wenn auch zunächst noch recht wenig beachteter – Anfang einer Umgestaltung des chinesischen Geisteslebens.
Dann kam der japanische Krieg, durch den klar erwiesen wurde, dass die Waffen allein nicht ausreichen, sondern dass hinter den Waffen der entsprechende Geist stehen müsse. So begann denn nach Li Hung Tschangs Niederlage die zweite Periode in der Umgestaltung der chinesischen Kultur. Diese Periode zeigt bedeutende Schwankungen, und von den Führern der Bewegung sind manche später wieder in andere Richtungen übergegangen oder wurden in der Welt zerstreut.
Während dieser zweiten Periode lag ein Mittelpunkt der Reform am Yangtse in der alten Stadt Wutsch’ang, die mit Hank’ou und Hanyang zusammen die große Millionenstadt Chinas bildet. Hier saß der Generalgouverneur Tschang Tschï Tung, vielleicht neben Li Hung Tschang der bedeutendste der alten chinesischen Beamten. Aber während Li Hung Tschang mehr ein Mann der Praxis war, der weniger Wert auf Feinheit und Schönheit legte als auf das, was von unmittelbarem Nutzen war, lebte in Tschang Tschï Tung der Geist des mittelalterlichen Konfuzianismus mit seinem Bedürfnis nach Feinheit und Form.
Darum war die Reformbewegung, die von Tschang Tschï Tung ausging, ganz anderer Art. Erst gehörte er zu einer reaktionären Bewegung, der sogenannten Ts’ing Liu Tang, die den alten chinesischen Geist gegen die neue Zeit verteidigen wollte. Ku Hung Ming, der lange Jahre Sekretär bei Tschang Tschï Tung war und trotz seiner europäischen Erziehung sich durch fanatische Anhänglichkeit an das Alte und grimmige Feindschaft gegen alles Fremde auszeichnet, erzählt von dieser Bewegung, die er mit der Oxford-Bewegung in England vergleicht3. Er überschätzt ihre Bedeutung. Eine Handvoll literarischer Ideologen suchte eine Reaktion in die Wege zu leiten, ohne der Sache gewachsen zu sein. Die ganze Bewegung scheiterte kläglich und bedeutet kaum eine Episode in der Geschichte der chinesischen Reformen.
Tschang Tschï Tung wandte sich denn auch rechtzeitig von diesen Versuchen ab und wandte sich den jungen aufstrebenden Kantonesen K’ang Yu We, Liang K’i Tsch’ao u. a. zu, die, ohne selbst im Westen gewesen zu sein oder eine europäische Sprache zu sprechen, dennoch davon durchdrungen waren, dass ein Geist strenger Kritik die eigene Kultur zu prüfen habe und dass unter allen Umständen eine Europäisierung der ganzen Gesetze und der Staatsverwaltung notwendig sei. Durch seine Empfehlung erlangten die jungen Reformer das Ohr des Kaisers Kuanghsü, der seit 1889 die Zügel der Regierung in der Hand hatte und seit kurzem sich auch von dem moralischen Einfluss seiner Tante, der Kaiserin-Witwe Tsi Hsi, loszumachen im Begriff war. Und nun beginnt, nachdem das alte System Li Hung Tschangs zusammengebrochen war, die Reformära von 1898. Edikt folgte auf Edikt. Die alten Prüfungen, die seit Jahrtausenden das Sieb waren, durch das die Beamten aus der Masse der Bevölkerung herausgesiebt worden waren, wurden abgeschafft. Schulen nach westlichem Muster sollten allenthalben gegründet, das ganze Staatswesen sollte nach westlichem Muster reformiert werden. Eine allgemeine Bestürzung war die Folge.
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