1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Dieses mittelchinesische Zentrum hat übrigens weiter unten am Yangtse, in Nanking, noch eine Stadt, die ebenfalls der Sitz eines Generalgouverneurs war. Nanking, die südliche Hauptstadt, die einst der Sitz der Regierung des großen Ts’in Huang Ti war, umgibt mit seinen Mauern ein ungeheures Areal, in dem Hügel und Flächen sich abwechseln. Aber es ist seit den schrecklichen Zerstörungen, die im Gefolge der Taipingrebellion über die Stadt hereinbrachen, ein verödeter Platz. Eigentlich war ihm schon das Urteil gesprochen, seit Yunglo, der dritte Herrscher der Mingdynastie, aus strategischen Gründen die Hauptstadt nach Norden, Peking, verlegt hatte. Aber zu dem Bezirk von Nanking gehört Schanghai, die Weltstadt, in der Nähe der Yangtsemündung, und diese Stadt gibt der ganzen Gegend ihr Gepräge. Es ist selbstverständlich, dass hier, wo die ungeheuren Aktienunternehmungen wie die Commercial Press, eine Druckerei, die zu den umfangreichsten der ganzen Welt gehört, und alle die vielen teils chinesischen, teils europäischen Handels-, Schifffahrts- und Industrieunternehmungen sich befinden, die ganze Reformfrage ein wesentlich akuteres Aussehen von Anfang an hatte als in den mehr im Innern gelegenen Zentren. Schanghai ist sozusagen das Laboratorium, in dem auf wirtschaftlichem und industriellem Gebiet die Synthesen ausprobiert werden zwischen östlichen und westlichen Kulturformen. Wenn Peking auch stets der intellektuelle Mittelpunkt ist, so ist Schanghai in praktischer Hinsicht dem übrigen China immer um einen Schritt voraus.
Das dritte Zentrum der Reformbewegung ist Kanton. Die Südprovinzen liegen von den alten Mittelpunkten chinesischer Kultur abseits. Sie sind erst verhältnismäßig spät in den Umkreis des chinesischen Geistes einbezogen worden. Auch rassenmäßig findet sich ein gewisser Unterschied. Obwohl die meisten der Familiennamen auf chinesischen Ursprung hinweisen und auch der Dialekt eine sogar ursprünglichere, weniger abgeschliffene Form des chinesischen Sprachstammes darstellt, so sind die Menschen doch viel südlicher, heißblütiger, radikaler, abergläubischer als im Norden. Es ist daher kein Zufall, dass der chinesische Kulturzusammenhang sich hier am lockersten erweist und gerade von hier aus der Hauptstrom der Auswanderer nach dem Süden und Osten sich ergießt, der die Inselwelt Südasiens mehr und mehr unter wirtschaftliche Kontrolle bringt, ganz einerlei, wer die politischen Herrscher sind. In Niederländisch-Indien, ebenso wie in den englischen Straits-Settlements, dehnt sich der Einfluss der chinesischen Ansiedler auf wirtschaftlichem Gebiet immer mehr aus, und seit nun in Schanghai eine große Unterrichtsanstalt für Auslandschinesen gegründet ist, werden diese Kreise auch immer mehr kulturell zusammengefasst.
Aber diese Südprovinzen sind zugleich der Sitz radikaler Bewegungen. Hier hatte der Taipingaufstand seinen Anfang und von hier aus waren die radikalen Reformer K’ang Yu We und Liang K’i Tsch’ao nach Norden gekommen. Hier bildete sich nun auch ein Auslandsstudententum aus, das nicht für den Bestand der chinesichen Kultur, sondern für die Dynastie selbst gefährlich werden sollte.
Die von der Kaiserin-Witwe und ihren Ratgebern eingeleiteten Bildungsreformen litten nämlich an Systemlosigkeit. Während die Reform in Japan, ausgehend von einer Handvoll festentschlossener, zielbewusster und vollkommen geheim arbeitender Männer, nach einem beinahe mathematisch ausgezirkelten Plane, Schritt für Schritt zur Ausführung kam, waren die Verhältnisse in China viel chaotischer. Es gab in China unter den großen Führern der Nation niemand, der die nötigen Detailkenntnisse für die einheitliche Durchführung einer so ungeheuren Aufgabe gehabt hätte. Man darf ja nicht vergessen, dass die Aufgabe in China weit schwieriger war als in Japan, dessen übersichtliche Verhältnisse höchstens einer bis zwei der einzelnen chinesischen Provinzen gleichkamen. Außerdem handelte es sich in China nicht wie in Japan einfach um einen Wechsel des Gewandes, sondern um eine Neugestaltung aus der Tiefe heraus. Man hätte denken sollen, dass China, wenn es selbst die Männer noch nicht besaß, die die positiven Kenntnisse für eine solche Reform hatten, zu der Auskunft Japans hätte greifen können und ausländische Berater in umfangreichem Ausmaß hätte anstellen können, die dann die Verantwortung für die richtige Durchführung der Reformen gehabt hätten.
Auch dies ist nur bis zu einem gewissen Grad geschehen. Da und dort wurden wohl Ratgeber für die Reformen beigezogen, aber man gab ihnen nie volle Gewalt, so dass sie doch ziemlich gehemmt waren. Verschiedene Gründe lassen sich dafür angeben. Einmal war die Fühlung zwischen China und den fremden Ländern noch nicht so weit hergestellt, dass die Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, die geeigneten Leute unmittelbar auszuwählen. Zudem gab es in diesen Ländern ja wohl Fachkenner, aber keine solchen, die zugleich mit den chinesischen Verhältnissen und Bedürfnissen so vertraut waren, dass sie vor groben Missgriffen absolut sicher gewesen wären. Man musste also die heranzuziehenden Ratgeber den in China anwesenden Fremden entnehmen. Hierfür kamen in erster Linie die Zollbeamten und die Missionare in Betracht.
Der chinesische Seezoll ist eine Einrichtung von Sir Robert Hart, die jahrzehntelang als Verwaltungskörper geradezu musterhaft funktioniert hat. Auch die Postverwaltung und später die Salzverwaltung haben sich in dieser Hinsicht recht gut bewährt. Man kann auch nicht sagen, dass diese Körperschaften infolge ihrer fremden Beamten die Politik der fremden Nationen mehr als die Chinas betrieben hätten. Dafür war schon durch die bunte Zusammensetzung des Stabes gesorgt, der eine starke Einheit außerhalb der nationalen Schranken bilden musste, wenn er überhaupt bestehen wollte. Diese Solidarität hat sich auch recht gut bewährt. Erst im Weltkrieg ist sie in die Brüche gegangen, und die deutschen Angehörigen dieser Behörden wurden brutal entfernt. Das ist natürlich aufs Tiefste zu beklagen, wenn auch hier gewiss ist, dass die Nemesis ihren Lauf nehmen wird: Was mit den Deutschen zuerst geschah, wird mit den anderen fremden Staatsangehörigen über kurz oder lang auch geschehen. Man kann wohl sagen, dass der chinesische Seezoll in seiner bisherigen Form im Weltkrieg prinzipiell den Todesstoß bekommen hat.
Wenn nun aber der Seezoll als wirtschaftliche Behörde in China sehr gut gewirkt hat, so kann man doch, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht sagen, dass er als Keimzelle für die übrigen Reformeinrichtungen in Betracht gekommen wäre. Als wirtschaftliche, verhältnismäßig wohlbegrenzte Einrichtung vertrug er wohl zur Not die starke Selbstständigkeit der fremden Beamten, die der chinesischen Regierung gegenüber sehr souverän mit den von ihnen eingezogenen Geldern verfuhren. Auf anderen Gebieten hätte ein solcher Staat im Staate den Tod der chinesischen Unabhängigkeit bedeutet. Sir Robert Hart hat auch die Gelegenheit, die ihm bei der Begründung der Hochschule T’ung Wen Kuan in Peking gegeben war, nicht so benützt, dass daraus wirklich eine musterhafte Anstalt geworden wäre. Erst nach langen, schwierigen Arbeiten ist unter chinesischer Leitung allmählich die jetzige Peking-Universität an ihre Stelle getreten. Auch die Missionare konnten sich bei allem guten Willen häufig von den christlichen Beschränkungen nicht ganz los machen. Die von ihnen geleiteten Universitäten hatten alle die Tendenz, den Christen irgendwelche Prärogativen zu geben. Wo ein Einzelner weitsichtiger gewesen wäre, wurde er von den Übrigen aufs gehässigste angegriffen. So war der alte, ehrwürdige D. Martin, der ein gutes Wort für den Ahnendienst einzulegen wagte – der nebenbei bemerkt in Japan keine Missionsschwierigkeit gemacht hat –, lange Jahre hindurch verfemt und geschmäht.
Man musste irgendwie seinen Weg im Ungewissen vorantasten. Es entstanden Schnellpressen, um das nötige Lehrermaterial auszubilden. Ein Raritätenkabinett und Panoptikum unter Leitung eines englischen Missionars in Tsinanfu genoss allgemeine Hochachtung, und man nahm sogar die Predigten in Kauf, die man über sich ergehen lassen musste, ehe man zugelassen wurde zum Anblick der Wunder des Westens.
Читать дальше