Diese aus keynesianischer Sicht kontraproduktive Politik basiert auf einem grundsätzlich anderen Verständnis der Rollen von Markt und Staat. Auch die ordoliberalen Erben Hayeks beobachten, dass es den Unternehmen immer weniger gelingt, neue Produkte zu entwickeln, die das Interesse der Konsumenten wecken. Als Ursache dieser Innovationsschwäche der Unternehmen wird jedoch der Staat ausgemacht, der unternehmerisches Engagement mit seinen sozialen, ökologischen, und normativen Auflagen erstickt. Investieren die Unternehmen nicht, wächst die Wirtschaft nicht. Wächst der Kuchen nicht mehr, zerreißen Verteilungskämpfe um die größten Stücke des Bestehenden die Gesellschaft. Würde man die Unternehmen dagegen von all dem Ballast befreien, den ihnen der Staat aufbürdet, könnten sie endlich wieder das tun, was von ihnen erwartet werden darf: mit innovativen Geschäftsmodellen wirtschaftliche Dynamik entfachen. Die Früchte des Wachstums würden dann allen zugutekommen ( Trickle-down -Theorie).
Als dem Industriekapitalismus in den 1970er-Jahren durch die steigenden Lohn- und Energiekosten und den wachsenden Wettbewerbsdruck die Puste ausging, setzten die Neoliberalen zum Befreiungsschlag an. Seit vier Jahrzehnten treiben sie nun schon eine Konterrevolution gegen alles voran, was in ihren Augen das freie Spiel der Marktkräfte behindert. Ihr Reformprogramm zur Überwindung der Krise des Kapitalismus setzt an fünf Stellen an:
1.Mit Hochdruck werden die Produkte der Zukunft entwickelt. In der Hoffnung, endlich einen Ausweg aus der Wachstumsschwäche zu finden, werden riesige Summen in die Erforschung neuer Technologien investiert.
2.Es werden Kosten reduziert, um im härter werdenden Wettbewerb um die gesättigten Märkte bestehen zu können. Das geschieht durch das Offshoring und die Automatisierung der Produktion, aber auch durch Lohndruck und den Rückbau des Wohlfahrtsstaates.
3.Neue Kunden werden in den Wachstumsmärkten der Schwellenländer erschlossen. Nach der Globalisierung der Produktion wird also der Konsum globalisiert.
4.In den gesättigten Heimatmärkten wird der Konsum durch private Verschuldung angeheizt.
5.Wenn das alles nicht hilft, parken die Anleger ihr Kapital an den Börsen, um Spekulationsgewinne mitzunehmen.
Doch heute stoßen alle diese Gegenstrategien an ihre ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Grenzen. Schlimmer noch, die neoliberalen Strategien verschärfen die Nachfragekrise, die den Kapitalismus im Würgegriff hält, nur noch weiter. Gefangen in der Dauerkrise sind nun alle Bereiche der Gesellschaft im permanenten Krisenmanagement. Doch auch die Rettungsaktionen der Zentralbanken und Staaten verschaffen nur kurzfristige Verschnaufpausen, verschlimmern langfristig sogar die Systemkrise. Das billige Geld treibt die soziale Ungleichheit, die Staatsschulden spalten Europa. Und jeder Versuch, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, provoziert eine neue Welle populistischer Revolten, die Europa auseinanderreißen und unsere Demokratien bedrohen.
Im Folgenden wollen wir in schnellen Schritten die vielen Baustellen der Systemkrise abschreiten, um besser zu verstehen, wie sich die Krisen gegenseitig bedingen und verstärken.
Kapitel 1
Die Produktivitätsrevolution zündet nicht
Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte ist das Wohlstandsniveau rund um den Globus immer weiter gestiegen. Angetrieben wurde dieser historisch einzigartige Aufschwung durch die schiere Explosion der Produktivität in den industriellen Revolutionen.
Die Strategie, die Produktivität durch technologische Innovationen weiter zu steigern, liegt daher nahe. Und tatsächlich erlebten wir in den vergangenen Jahrzehnten gewaltige Innovationsschübe, etwa in der Computer-, Kommunikations- oder Biotechnologie. Im neuen Jahrtausend revolutioniert die Digitalisierung Wirtschaft und Gesellschaft. Doch trotz all dieser monumentalen technischen Fortschritte hat der Ökonom Robert Gordon nachgewiesen, dass die Produktivität der Volkswirtschaften insgesamt kaum wächst. 4
Warum das so ist, stellt Wirtschaftswissenschaftler vor ein Rätsel. Vielleicht sind unsere Messinstrumente zu ungenau, um den Mehrwert der digitalen Wundertechnologien zu erfassen? Oder sind die Effizienzsteigerungen in einer Dienstleistungsökonomie nicht so groß wie im alten Industriekapitalismus? Oder liegen die großen Produktivitätssprünge, wie Gordon vermutet, bereits hinter uns?
Ob die digitale Revolution den ersehnten neuen Wachstumszyklus auslösen kann, bleibt also abzuwarten. Doch bereits heute sind Zweifel angebracht. Denn die digitale Automatisierung optimiert vor allem den Vertriebsweg zwischen Hersteller und Konsument. Statt selbst in die Ladengeschäfte zu gehen, wählt der Konsument von morgen unter Hunderten Produkten auf einer Onlineplattform aus und bekommt seine Bestellung innerhalb von 24 Stunden per Drohne nach Hause geliefert 5. Effizientere Logistik alleine löst aber nicht das Grundproblem der schwächelnden Nachfrage. Solange die Konsumenten unterm Strich nicht mehr konsumieren, bleibt die Digitalisierung ein Nullsummenspiel: Die fixeren Unternehmen jagen den langsameren Marktanteile ab, doch die Volkswirtschaft als Ganzes wächst nicht.
Wächst die Produktivität nicht, stagnieren bei gleichbleibenden Löhnen die Profite der Unternehmen. Steigen die Löhne nicht, schwächelt die Kaufkraft der Konsumenten. Ohne Konsumnachfrage haben die Unternehmen wenig Anreize, zu investieren. Ganz im Gegenteil: Sie werden versuchen, ihre Preise zu senken, indem sie die Lohnkosten drücken. Willkommen in der Zombiewelt stagnierender Löhne, nachlassender Kaufkraft, schwindsüchtiger Investitionsanreize, schwachen Wachstums, sozialer Verteilungskonflikte, wachsender Ungleichheit, sozialer Abstiegsängste und populistischer Revolten.
In dieser Zombiewelt gibt es natürlich nach wie vor technische Innovationen. Die jüngsten Errungenschaften im Bereich der Künstlichen Intelligenz, bei Supercomputern oder in der Nanotechnologie zeugen von dieser Innovationskraft. Doch abseits dieser innovativen Nischen ist die politische Ökonomie aller Disruptionsrhetorik zum Trotz erstaunlich konservativ. Die Gesellschaft als Ganzes setzt eher auf die Bewahrung des Bestehenden als auf kreative Zerstörung, um Neues zu schaffen.
Warum ist das so? Eingezwängt zwischen stagnierenden Reallöhnen und explodierenden Lebenshaltungskosten kämpft die Mittelschicht aus unteren, mittleren und gehobenen Angestellten, Facharbeitern, Bauern, kleineren Selbstständigen und Beamten ums Überleben. Mit dem Rücken an der Wand widersetzt sich die Mittelklasse jeder weiteren Einschränkung ihrer finanziellen Spielräume, seien es Steuern zur Finanzierung öffentlicher Güter, seien es Sozialabgaben zur Sicherung der sozial Schwächeren. Aus den Mittelschichten rekrutiert sich die überwältigende Mehrheit der Wähler. Will die Mittelschicht weniger Staat, wollen es auch die Parteien.
Konsumieren Mittelschicht und Staat weniger, sinkt der Anreiz für Unternehmen, zu investieren. Bleiben infolgedessen neue Beschäftigungsmöglichkeiten aus, setzt die Politik alles daran, wenigstens das Bestehende zu retten. Niedrigzinsen und staatliche Rettungspakete unterlaufen langfristig jedoch die gesunde Selbstkorrektur des Marktes. Damit sind nicht Ausnahmesituationen gemeint, die nichts mit dem normalen Marktgeschehen zu tun haben. In der Coronakrise sind beispielsweise auch kerngesunde Unternehmen unverschuldet in eine Schieflage geraten; in solchen Fällen ist es richtig, gesunde Industrien mit Tausenden von Arbeitsplätzen zu retten. Problematisch wird es, wenn der Staat Unternehmen weiter durchschleppt, deren Geschäftsmodell sich schon lange vor der Krise überlebt hatte. Unfähig, sich aus dem Morast ihrer Schulden zu befreien, schaffen diese Untoten nichts Neues mehr. Statt die knappe Kaufkraft für innovative Anbieter freizugeben, überleben unprofitable Unternehmen am Tropf der Staatshilfen.
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