Zentraler Bestandteil dieses sozialökologischen Entwicklungsmodells ist ein neues Verhältnis zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft ( Kapitel 23 ). In einer komplexen, fragmentierten und pluralen Gesellschaft kann weder ein bevormundender Obrigkeitsstaat noch ein neoliberaler Marktstaat funktionieren. Breite gesellschaftliche Mehrheiten befürworten dagegen eine vorausschauende Steuer- und Industriepolitik, welche die sozialökologisch-digitale Transformation vorantreibt, aber auch demokratiefeindliche Monopolstellungen in der Plattformökonomie durch eine robustere Anwendung des Wettbewerbsrechts aufbricht. Im digitalen Kapitalismus sollte sich der Staat als Gärtner verstehen: säen, wässern, aufziehen, schützen und zurechtstutzen.
Wie können die Menschen ihren Lebensunterhalt erwirtschaften, wenn in Zukunft Maschinen immer mehr Tätigkeiten übernehmen ( Kapitel 24 )? Auch im Maschinenzeitalter wird uns die Arbeit nicht ausgehen. Solange sich der ökologische und digitale Strukturwandel vollzieht, könnte es aber zu Verwerfungen an den Arbeitsmärkten kommen. Die menschengerechte Wirtschaft stellt daher neben den kapitalistischen einen solidarischen Arbeitsmarkt, auf dem ein solidarisches Grundeinkommen garantiert, dass jeder, der einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet, davon auch gut leben kann. Der innovative und dynamische kapitalistische Markt erwirtschaftet das nötige Produktivitätswachstum, um den solidarischen Arbeitsmarkt zu subventionieren. Haben die Menschen genügend Geld zum Konsumieren in der Tasche, profitiert davon wiederum die soziale Marktwirtschaft.
Quer durch das politische Spektrum wächst das Verständnis, dass sich die deutsche Wirtschaft nicht erholen kann, wenn ihre südeuropäischen Absatzmärkte in der Rezession gefangen bleiben. Sollte die globale Arbeitsteilung in Blöcke zerfallen, die sich voneinander abschotten, wird der europäische Heimatmarkt erst recht überlebenswichtig. Unter den geltenden Verträgen ist es aber nahezu unmöglich, die aggregierte Nachfrage in ganz Europa anzukurbeln. Ganz im Gegenteil: Die Fehlkonstruktion der Gemeinschaftswährung, die doch eigentlich für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen sollte, spaltet die Europäer. Immer mehr Menschen sehen daher in der neoliberalen Politik Brüssels nicht die Lösung, sondern einen Teil des Problems. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, muss Europa seinen Bürgern zeigen, dass es an ihrer Seite steht. Ist der Status quo der Währungsunion unhaltbar, und der Sprung in die Europäische Republik politisch blockiert, gilt es die Europäische Union fit für die Welt von morgen zu machen. In einer bedrohlichen Umwelt voller Krisen und Kriege ist die solidarische und souveräne Schutzmacht Europa die Plattform, auf der sich eine breite gesellschaftliche Allianz versammeln kann ( Kapitel 25 ).
Um den Kampf gegen rechts zu gewinnen, muss der Politik der Spaltung eine Politik des sozialen Zusammenhalts entgegengesetzt werden ( Kapitel 26 ). Um der verbreiteten Furcht vor dem Kontrollverlust entgegenzuwirken, müssen den Bürgern die Mittel an die Hand gegeben werden, die es ihnen erlauben, ihr Leben und das ihrer Gemeinschaft selbstbestimmt zu gestalten. Durch die Rückkehr des schützenden und fürsorgenden Staates in die Fläche wird den Verunsicherten signalisiert, dass sie nicht im Stich gelassen werden. Gesunde Kommunen ermöglichen die Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben. Die lebenswerten Heimaten erkennen das menschliche Bedürfnis nach Zusammenhalt, Zugehörigkeit und Halt im Taumel des Wandels an. Fern von jeder Deutschtümelei, sind sie weltoffene Orte mitten in Europa.
Um die Systemkrise zu überwinden, strebt der Transformative Realismus den Umbau der gesellschaftlichen Ordnung von Kopf bis Fuß an. Statt in der Pose des moralischen Appells zu verharren, sucht er nach gangbaren Wegen, diesen Umbau politisch zu gestalten. Auch der Transformative Realismus versteht Politik als die Kunst des Möglichen. Er weiß aber, dass kleinere Reparaturen nicht ausreichen, um die vielen miteinander verwobenen Krisen zu lösen. Echte Politikwechsel können nur im Ringen mit den Beharrungskräften des Status quo erreicht werden. Sinn und Zweck des Transformativen Realismus ist daher die Bildung breiter gesellschaftlicher Allianzen, die genügend Machtmittel mobilisieren können, um die notwendigen Pfadwechsel durchzusetzen. In den letzten Kapiteln werden fünf Plattformen vorgestellt, auf denen sich solche transformativen Allianzen versammeln können. Um die Systemkrise zu überwinden, werden weitere entwickelt werden müssen. Dieses Buch will zeigen, wie das gelingen kann.
Teil I
Der Neoliberalismus kann die Systemkrise nicht lösen
»Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influence, are usually the slaves of some defunct economist. Madmen in authority, who hear voices in the air, are distilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back.«
John Maynard Keynes
Die Coronakrise sendet wirtschaftliche Schockwellen um die Welt. Ob und wann die entwickelten Volkswirtschaften auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückkehren, ist ungewiss. China hat zwar nach dem scharfen Einbruch schnell zu einem Wachstumskurs zurückgefunden, aber weite Teile Europas stecken tief in der Rezession. Auch in Deutschland wächst die Wirtschaft wieder, dennoch bleiben die Konjunkturaussichten für den Exportweltmeister getrübt, solange seine Absatzmärkte im Coronafieber liegen 1. Jenseits konjunktureller Zyklen steht weiter die düstere Prognose des einflussreichen Ökonomen Larry Summers vor einer »Säkularen Stagnation« 2, also einer Phase schwachen Wachstums ohne nennenswerte Beschäftigungseffekte, im Raum.
Über die Ursachen dieser säkularen Stagnation herrscht ein ideologischer Glaubenskrieg, dessen Ursprung auf die Auseinandersetzung zwischen John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek zurückgeht. Im Kern lässt sich die Debatte zwischen den beiden Ökonomen, die die Gesellschaften des Westens seit über einem Jahrhundert polarisiert, auf die Frage herunterbrechen: Ist der Staat das Problem und der Markt die Lösung, oder ist es genau umgekehrt?
Die Erben Keynes vermuten die Ursache der Krise in der schwächelnden Nachfrage im Privatsektor. Der Staat soll daher durch Investitionen und Konsum die aggregierte Nachfrage ankurbeln. Die staatliche Starthilfe, so die Hoffnung, könne einen selbsttragenden Wachstumszyklus in Gang bringen.
Was löst aber die Nachfragekrise aus, an der die Volkswirtschaften des Westens aus keynesianischer Sicht seit Jahrzehnten leiden? 3Als Grundübel wird die Konsumschwäche in den übersättigten Märkten des Westens angesehen. Alternde Gesellschaften legen einen hohen Teil ihrer Einkommen als Altersvorsorge auf die hohe Kante. Anders als in Ländern mit schnell wachsenden Bevölkerungen wird die hohe Sparquote nicht durch jüngere Generationen mit größerem Konsumbedürfnis ausgeglichen. Die Konsumnachfrage wird zudem von der explodierenden sozialen Ungleichheit gedrosselt. Globalisierung und Automatisierung haben zu stagnierenden Reallöhnen geführt. Wer nichts hat, kann eben auch nicht konsumieren. Mit Blick auf diese düsteren Gewinnaussichten halten sich die Unternehmen mit ihren Investitionen zurück. Statt zu investieren geben sie ihr Geld lieber für Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen aus. Zur Konsumschwäche kommt also der Investitionsstreik der Unternehmen.
Gegen den Rat der Keynesianer weigern sich die Staaten, die schwächelnde private Nachfrage mit öffentlichem Konsum oder Investitionen auszugleichen. Spätestens seit den kostspieligen Rettungsaktionen der letzten Finanzkrise sind viele Staaten hoch verschuldet und versuchen ihre Finanzen durch harte Sparprogramme in den Griff zu bekommen. Mit jeder Null- und Sparrunde verschärft sich allerdings die Nachfragekrise.
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