Der Papierkram zog sich ewig hin und es hatte ihn ein Vermögen gekostet, für vier Monate eine schreckliche Wohnung zu mieten, denn so lange hatte es gedauert, eine Bestätigung zu bekommen, damit er sie aufnehmen konnte. Wenn die Jungs im Laden nicht zusammengelegt hätten, um ihm genug Geld zu schicken, damit er über die Runden kam, hätte er es nicht geschafft. Aber irgendwann war es überstanden und er fuhr mit ihr auf dem Rücksitz seines Autos nach Hause. Sie war auf der Fahrt dorthin beunruhigend brav gewesen und hatte sich in jedem Motelzimmer wie ein Engel verhalten.
Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass die Hölle losbrach, sobald er mit ihr durch seine Haustür trat. Sie weinte zwei Wochen lang ohne Unterlass, und er bekam insgesamt vielleicht neun Stunden Schlaf. Aber letzten Endes rauften sie sich zusammen und eines Morgens wachte er mit ihr neben sich auf und ihre kleine Hand lag an seiner Wange. Sie schenkte ihm mit ihren lediglich vier Schneidezähnen ein fast zahnloses Lächeln, gab ihm einen Klaps auf die Wange und sagte: »Dadadada.« In diesem Moment wusste er, dass er buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug um sie kämpfen würde, denn sie gehörte zu ihm.
»Ich gebe nicht auf«, versicherte er Beth schließlich und fuhr mit seinem Rollstuhl in die Küche, um seine Schlüssel und seinen Geldbeutel zu holen. »Als ich sie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht habe, habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sie mir nur über meine Leiche wieder wegnehmen können, und das war mein Ernst. Aber ich bin diesen Kampf einfach leid. Was auch immer Sie für Vorurteile gegen mich haben, weil ich tätowiert bin und meine Beine nicht funktionieren, Sie und ich, wir beide wissen, dass ich das Beste bin, was ihr passieren konnte.«
Beth, die ihm gefolgt war, sah ihn mit steinerner Miene an. »Es geht nicht darum, was ich denke.«
Er lachte auf. »Ich weiß. Nur dass die Art und Weise, wie Sie denken, genau die gleiche ist, wie sie denken, und wenn ich Ihre Meinung nicht ändern kann, werde ich verlieren. Trotzdem gebe ich nicht auf.«
Sie starrte ihn noch einen Moment an, dann seufzte sie und er glaubte, dass er vielleicht ‒ nur vielleicht ‒ einen kleinen Anflug von Schuldgefühlen in ihren Augen entdeckte. »Soll ich Sie mitnehmen?«
»Oh, ich kann selbst fahren, danke. Ich vermute, wir werden uns dort nicht sehen.« Danach brachte er sie zur Tür und ging anschließend zurück ins Wohnzimmer, um Derek anzurufen.
Er war dankbar, dass Derek nicht versucht hatte, ihn lange aufzuhalten oder ihn aufzumuntern, denn das war im Moment zwecklos. Er hatte dieses Spielchen schon so oft mitgespielt, dass er es im Schlaf konnte. Er würde mit mehreren Leuten zusammensitzen ‒ an einem runden Tisch, damit er sich ebenbürtig fühlte. Sie würden ihm aufdringliche Fragen darüber stellen, wie er es schaffte, allein zu scheißen oder zu duschen, und was mit Maisy passieren würde, wenn er stürzte, und wie oft er sie als Baby fallen gelassen hatte. Sie würden ihn fragen, wie sicher sein Arbeitsplatz war und ob er etwas in der Hinterhand hätte, wenn das mit den Tattoos nicht funktionierte ‒ denn anscheinend waren fast zwanzig Jahre am selben Arbeitsplatz nicht gut genug, damit seine Stelle als beständig galt, weil es in ihren Augen keine respektable Berufswahl war.
Danach würden sie einen uralten Rollator mit einem kaputten Rad aus dem hintersten Schrank holen und ihn bitten, damit durch den Raum zu gehen. Und er würde es tun. Ohne seine Schienen würde er seine gelähmten, verkümmerten Beine wie ein tanzender Affe auf der Uferpromenade über den dünnen, abgenutzten Teppich schleifen. Dann würde er sowohl Mitleid als auch Ekel in ihren Gesichtern sehen, denn während er das tat, sah er genauso aus wie der Behinderte, den sie in ihm sahen.
Sie wollten nie Videos von den Fitnesskursen sehen, die er leitete, oder von den Marathons, die er mit seinem umgebauten Fahrrad gewonnen hatte, für das er ein paar Tausender hingeblättert hatte. Sie wollten nicht sehen, dass er zu Hause besser zurechtkam als Leute mit zwei funktionierenden Beinen, wenn er das Abendessen, das Baden vor dem Schlafengehen und ein widerspenstiges Kleinkind unter einen Hut brachte. Es war ihnen egal, dass er mit einer Dreijährigen umgehen konnte, die einen Tobsuchtsanfall hatte, weil sie nach dem Abendessen kein Eis bekam, weil sie ihr Gemüse nicht aufgegessen hatte.
Nein. Sie interessierten sich nur für den einzigen Aufenthalt in der Notaufnahme, weil sie auf dem Spielplatz eine Betonstufe hinuntergefallen war und mit drei Stichen am Kinn genäht werden musste. Sie interessierten sich für die neun Monate Psychotherapie, der er sich mit sechzehn Jahren unterzogen hatte, weil er Selbstmordgedanken gehabt hatte, nachdem er mit angehört hatte, wie seine Eltern darüber sprachen, dass er den Rest seines Lebens der Gesellschaft auf der Tasche liegen würde. Sie interessierten sich für die Tatsache, dass er nicht einfach aufspringen und auf ihren Befehl hin den verdammten Charleston tanzen konnte.
Er verpackte all das zu einem hässlichen, verbitterten Ball aus Wut, der wahrscheinlich eines Tages zu einem Magengeschwür führen würde, und setzte ein Lächeln auf, während er seine Schlüssel nahm und hinausging. Es würde ein verdammt langer Tag werden, aber das war ihm egal. Er hatte nicht gelogen, als er zu Beth gesagt hatte, dass ihm klar war, wohin das führen würde, sie ihn aber umbringen mussten, wenn sie ihm Maisy wegnehmen wollten. Er würde sie nicht verlieren. Sie war sein Leben, basta.
»Okay, Mr. Braga, gehen Sie zu dieser Adresse und melden Sie sich an der Rezeption. Wir werden Sie anrufen lassen, sobald wir wissen, wann genau der Kurs stattfindet.«
Seine Finger ballten sich um die Visitenkarte zur Faust und er versuchte, sie nicht aus purer, unverfälschter Wut in seiner Handfläche zu zerquetschen. Er rang sich ein Lächeln ab, als er mit ihrer leeren Miene konfrontiert war. »Und es sind sechs Wochen, sagten Sie?«
Die Frau mit den viel zu weißen Haaren, die in ihrem Nacken zusammengebunden waren, schenkte ihm ein gönnerhaftes Lächeln. »Sechs Wochen, ja. Dann werden wir Sie erneut beurteilen.«
»Also nehme ich sechs Wochen lang an einem Reha-Kurs teil, in dem es darum geht, wie man mit einer Lähmung zurechtkommt ‒ wobei nichts davon mit Kindererziehung zu tun hat ‒, und das ist dann nicht einmal eine Garantie dafür, dass mein Fall damit abgeschlossen ist und ich meine Tochter adoptieren darf?« Vor Frustration schnürte sich ihm die Kehle zu und er konnte das Zögern in ihren Augen sehen.
»Sehen Sie, Mr. Braga, unser Protokoll sieht vor, dass wir…«
Er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. »Als ich den Autounfall hatte, war ich fünfzehn. Ich bin seit über zwanzig Jahren gelähmt, was bedeutet, dass ich länger einen Rollstuhl benutze, als dass ich laufen konnte. Denken Sie, ich wüsste nicht genau, wie ich im Alltag mit meiner Behinderung zurechtkomme?«
»Sir, ich…«
»Und meine Tochter lebt seit fast drei Jahren bei mir. Was bedeutet, dass ich es geschafft habe, auf und ab zu gehen, während sie drei Stunden am Stück geschrien hat, weil sie Koliken hatte. Ich habe mit ihr Krupp-Anfälle, die Grippe und jede verdammte Erkältung und Ohrenentzündung durchgemacht, die sie jemals hatte. Ich habe sie sauber gemacht, sie beschützt und ihr zu essen gegeben. Ich habe mich tadellos um sie gekümmert. Und jetzt sagen Sie mir, in Ihrem Protokoll steht, dass ich an diesem Kurs teilnehmen muss ‒ ein Kurs, den ich vor zwanzig Jahren schon gemacht habe, und dass mir das immer noch keine Garantie gibt, dass diese Beurteilungen aufhören und man sie einfach bei dem einzigen Menschen bleiben lässt, den sie als Elternteil kennt?« Sein Atem ging schnell und er konnte fühlen, wie seine Brust eng wurde, was kein gutes Zeichen war. Wenn seine Beine zu krampfen begannen, würde sie das nur in ihrem Glauben bestätigen, dass er unfähig war. Er zwang sich zur Ruhe, obwohl sie auf seine Unterlagen starrte, statt ihm in die Augen zu schauen.
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