»Willst du uns davon erzählen?«, fragte Cale, nachdem die Stille zu lange angehalten hatte, um noch höflich zu sein.
Niko legte die Gewichte ab und griff nach seinem Handtuch, um sich den Nacken abzutrocknen. Sein Bein begann zu zwicken, und er würde es nachher kühlen müssen, aber das Workout fühlte sich gut an. »Vielleicht. Ich bin mir noch nicht sicher.« Er ließ sich zurück auf die Bank sinken, bettete die Hände auf den Bauch und seufzte. »Ich muss echt flachgelegt werden.«
»Du bist nicht mein Typ«, meinte Cale.
Niko versetzte ihm einen sanften Tritt. »Du meiner auch nicht. Keiner von euch Arschgesichtern ‒ obwohl Sage schon ganz nett anzusehen ist.«
»Interessant, dass du das sagst«, meinte Sage und lehnte sich etwas näher. »Wusstest du, dass ich einen Zwillingsbruder habe?«
Nikos Augenbrauen schossen nach oben und er stemmte sich auf die Ellbogen hoch. »Ich sagte, ganz nett anzusehen, aber wenn ich nicht auf dich stehe, kann ich mir nicht vorstellen, warum ich an deinem Klon interessiert sein sollte.«
»Zwilling, nicht Klon«, erwiderte Sage mit einem ironischen Grinsen. »Und glaub mir, unsere Ähnlichkeiten enden mit unserem Gesicht und einem Teil unserer Tattoos. Er ist ein verdammter Nerd, wie du, und wir kriegen uns auch ständig wegen Tomaten in die Haare.«
»Oh nein, verdammt, das höre ich mir nicht noch einmal an«, sagte Cale. Er sprang auf und ergriff die Flucht, während Niko in seine Wasserflasche lachte.
»Aber im Ernst, du würdest ihn wahrscheinlich mögen«, sagte Sage einen Moment später. Er nahm sein eigenes Handtuch und wischte sich einen Teil des Magnesiums von den Händen. »Er ist Künstler. Ich meine, wir arbeiten beide im Tattooladen, aber er ist die Art von Künstler mit Leinwand und Staffelei. Seine Arbeit ist atemberaubend. Das könnte ich niemals. Und er ist ein anständiger Kerl. Jedenfalls ein besserer als ich.«
»Du bist auch nicht schlecht«, meinte Niko mit einem ehrlichen Lächeln, denn er mochte sich vielleicht nicht zu Sages Persönlichkeit hingezogen fühlen, aber er mochte den Kerl. »Aber ernsthaft, wenn ihr beide so ausseht«, er wedelte mit der Hand in Sages Richtung, »wieso seid ihr dann beide Single?«
»Ich bin Witwer«, sagte Sage nach einer kurzen Pause leise und zögerlich. »Oder, na ja, jedenfalls fast. Wir wollten in dem Monat heiraten, aber er wurde krank und, äh… ja. Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich bereit für jemand Neues. Derek ist… verdammt, er hat Einiges an der Backe. Wir hatten es als Kinder ziemlich schwer und er hat damit zu kämpfen, aber er ist die Mühe wert, verstehst du? Mit jemandem, der gewillt ist, sich Mühe mit ihm zu geben.«
Niko dachte lange über seine Worte nach, um herauszufinden, was genau Sage damit meinte. Er wusste, was eine schwere Kindheit bedeuten konnte ‒ so war es seinem Vater ergangen und er hatte im Laufe der Jahre Freunde gefunden, die sich ebenfalls damit herumschlagen mussten. Sie tendierten dazu, Bindungsstörungen und Vertrauensprobleme zu haben, nichts, womit er nicht umgehen konnte. Aber er war sich nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee war.
»Hör mal«, fuhr Sage fort und unterbrach seinen Gedankengang, »ich bin mir nicht einmal sicher, ob Derek im Moment überhaupt an einem Date interessiert wäre, aber wenn ich ihn dazu bringen kann, Ja zu sagen, würdest du darüber nachdenken? Nur ein paar Drinks oder so?«
»Er sieht aus wie du«, fragte Niko und hob die Augenbrauen, »nur ohne die kranken Ansichten zu Obst und Gemüse?«
Sage zeigte ihm den Mittelfinger, grinste dabei jedoch. »Er mag auch den Hipster-Mist, den du hörst. Wie dieser alte Scheiß. Enya? «, verdeutlichte er.
Niko spürte, wie sein Lächeln breiter wurde, und obwohl er es noch nie jemandem verraten hatte, war Enya auf seiner Aufwärm-Playlist gewesen, wenn er sich vor dem Umziehen gedehnt hatte. »Damit könnte ich leben.«
»Ist das ein Ja?«, drängte Sage.
Niko zuckte mit den Schultern. »Ich könnte es viel schlimmer treffen, als einen Typen abzubekommen, der aussieht wie du, aber weiß, wo die verdammten Tomaten auf der Ernährungspyramide stehen.« Er griff nach seinem Handy. »Gib mir deine Nummer und ich schicke dir meine. Du kannst mir eine Nachricht schreiben, wenn er interessiert ist.«
Er hegte keine große Hoffnung. Sein Glück bei Verabredungen war im Laufe der Jahre bestenfalls erbärmlich gewesen, aber vielleicht war es ein Anfang. Zumindest war er im Leben viel weiter gekommen, als er jemals gedacht hatte, und das hatte etwas zu sagen.
»Sie wissen, wie leid mir das tut, Sam. Ich wollte nicht, dass das passiert.« Beths Stimme klang beschämt und entschuldigend, denn sie wusste verdammt genau, was passieren würde, wenn sie den Bericht ihrer Inspektion an ihren Chef übergab. Der gleiche verfluchte Mist wie jedes Mal, seit er den Adoptionsprozess begonnen hatte. »Es sollte wirklich nicht lange dauern.«
Er warf ihr einen unbeeindruckten Blick zu, als sie sich auf sein Sofa setzte und die Hände sittsam im Schoß faltete. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein frisch gewaschenes Haar und ließ seine Hände dann zu den Rädern seines Rollstuhls wandern. »Was soll's.«
»Kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Das ist in dieser Situation nicht hilfreich.«
»Sie und ich, wir wissen beide, wie das endet«, sagte er ein bisschen zu harsch zu ihr, aber er fühlte sich innerlich zerschlagen. Es würde darauf hinauslaufen, dass ihm ein Richter sein kleines Mädchen aus den Armen riss und sie Fremden gab, und das wäre das Ende. Er hatte noch nicht mal ein Kind gewollt, verdammt. Als man sie als Neugeborenes von seiner drogenabhängigen Cousine weggeholt hatte ‒ die das Krankenhaus verlassen und sich nie die Mühe gemacht hatte zurückzublicken ‒, hatte er nichts davon gewusst. Zum Teufel, er hatte nicht einmal gewusst, dass das Baby überhaupt existierte. Der Anruf bei ihm war ein letzter Versuch gewesen, einen Verwandten zu finden, bevor man das Baby zur Adoption freigegeben hätte.
Sam hatte die Sachbearbeiterin an diesem Tag am Telefon beinahe ausgelacht, aber er war höflich gewesen und hatte gesagt, er würde ein paar Anrufe tätigen und sehen, was er tun konnte. Er wusste, dass er nicht geeignet war, Vater zu sein. Er bekam sein eigenes Leben ja schon kaum auf die Reihe, verdammt, und damit hatte seine Lähmung nichts zu tun. Es war die Tatsache, dass seine Arbeitszeiten nicht gerade mit der Erziehung eines Kindes vereinbar waren und er in einem Tattooladen arbeitete, um Himmels willen. Es war nicht so, als hätten sie im Studio eine angegliederte Kindertagesstätte. Und zum Teufel, er hatte noch nie ein Kind im Arm gehalten, geschweige denn die Verantwortung dafür getragen, dass es am Leben blieb.
Doch die Vorstellung, dass sie von einer Pflegefamilie zur nächsten geschoben wurde, dass jeder – einfach jeder ‒ sie sich schnappen und für sich beanspruchen konnte, ohne beweisen zu müssen, dass er würdig war? Diese Vorstellung ging ihm unter die Haut und ließ ihn nicht in Ruhe.
Irgendwie fand er sich auf der eintausendfünfhundert Kilometer langen Fahrt nach Norden zu einem kleinen Vorort wieder, wo ein Haus mit drei Schlafzimmern stand, in dem sechs Pflegekinder, eine überforderte Mutter und ein Vater lebten, der nach der Arbeit lieber sein Bier genoss, statt sich hin und wieder um den Abwasch zu kümmern. Die Mutter hatte ihr Bestes gegeben, aber sie war überarbeitet und Sam wusste, dass er Maisy nicht dort lassen würde.
Das Mädchen war ausgehungert nach Liebe und Aufmerksamkeit, denn es war einfacher, sie in ein klappriges altes Kinderbett zu legen und sie schreien zu lassen, als ihr zu geben, was sie brauchte. Sie klammerte sich an ihn, als wäre es das erste Mal, dass jemand sie im Arm hielt, und damit war die Entscheidung gefallen. Sie hatte ihm das Herz rausgerissen und hielt es in ihren pummeligen, kleinen Händen.
Читать дальше