Aber vielleicht brauchte er sich nicht nutzlos fühlen. Vielleicht konnte er es besser machen, etwas Besseres sein.
Dan, ich bin dabei. Heute Abend fülle ich den Antrag aus. Halt mir ein Zimmer frei. Bis bald.
Nik.
Er brauchte keinen Mitbewohner, aber vielleicht würde es ihm guttun, ein paar Leute um sich zu haben, die ihn zur Verantwortung zogen und ihm in den Hintern traten. Schließlich war das, worin er gut gewesen war, jetzt unerreichbar. Für immer. Deshalb war es an der Zeit herauszufinden, ob er noch irgendetwas anderes beisteuern konnte.
Natürlich hatte Niko damit gerechnet, einen Abschluss zu machen, aber er hatte nicht damit gerechnet, einen Abschluss summa cum laude zu machen, doch es hatte sich herausgestellt, dass akademische Dinge ihm lagen. Zahlen und Mathematik sprachen auf die gleiche Weise zu ihm wie seine Kufen auf dem Eis. Sie waren wie eine neue Sprache und irgendwie ergab die Welt dadurch wieder Sinn. Er hatte auch nicht damit gerechnet, seine geheime Leidenschaft fürs Kochen zu entdecken ‒ er hatte einen Kochkurs belegt, nachdem sein Mitbewohner sich immer beschwert hatte, dass niemand im Haus etwas Komplizierteres machen konnte als Fertignudeln. Also übernahm er auch das, während er an seinem Abschluss in Buchhaltung arbeitete. Seine Mutter und seine Schwester waren beide gekommen, um ihn laufen zu sehen, und erneut ein paar Jahre später, als er seinen Abschluss machte, und irgendwie schien sich sein Leben in Fairfield auf eine Art zu fügen, die er nie kommen gesehen hatte.
Die Stadt war klein und lag abgelegen. Im Laufe der Jahre hatten ihn ein paar Eishockeyfans als den Typen erkannt, der sich zwei Minuten nach Beginn seines ersten Spiels verletzt hatte, aber die meiste Zeit war er einfach Niko. Er war einfach der muskelbepackte Buchhalter, der einerseits ein Nerd war, aber auch ein Fitnessfreak und der seltsamerweise so in diese Welt passte, wie er es sich nie hatte vorstellen können. Am meisten überraschte ihn allerdings, dass er es nicht hasste. Dass er dadurch das Gefühl bekam, Fairfield könnte sein Zuhause werden, wenn er es zuließ. Noch fühlte es sich nicht so an. Er hatte eine Eigentumswohnung gekauft und sich in einer Buchhaltungsfirma eingerichtet. Er hatte Freunde im Fitnessstudio und Freunde, mit denen er sich traf, um etwas trinken zu gehen, aber er hatte noch nicht das Gefühl, dass er so zu der Stadt gehörte wie alle anderen. Er ließ nie jemanden an sich heran.
Er fragte sich, ob dieses Gefühl zum Teil darauf zurückging, dass er im Alter von vier Jahren aus seinem Heimatland gerissen worden war, aber wenn er ehrlich war, erinnerte er sich kaum noch an Rethymno, abgesehen davon, wie er auf einer kleinen Steinmauer saß und seinem Vater zuschaute, wie er auf einem kleinen Fischerboot die Netze einholte. Er erinnerte sich an den Geruch von totem Fisch und an die Feuchtigkeit und daran, dass er ins Wasser springen wollte, obwohl seine Mutter es nie erlaubt hatte.
Er erinnerte sich deutlicher an den Weggang als an die Zeit dort. Er erinnerte sich, dass seine Eltern zu Hause Englisch gesprochen hatten, sobald sie ihr schreckliches kleines Apartment in Jersey bezogen hatten. Trotzdem hatte er, als er ein Jahr später in den Kindergarten kam, noch Probleme mit der Sprache gehabt. Er erinnerte sich, dass die Kinder in seiner Klasse sich über ihn lustig gemacht hatten, weil sie seinen Akzent komisch fanden. Er erinnerte sich, einem Jungen namens Jake im ersten Schuljahr eine blutige Nase verpasst zu haben, weil er Nikos Art zu sprechen nachgeahmt hatte, aber auch, wie sehr dieser Moment in ihm den Wunsch geweckt hatte, dazugehören zu wollen.
Als er auf die Highschool kam, war er ein vollkommen anderer Mensch gewesen. Er war ein Jersey Boy ‒ ein Möchtegern mit aufgestelltem Kragen und lachsfarbenen Shorts, den Blick auf den Stanley Cup gerichtet, und er hatte es beinahe ‒ beinahe ‒ geschafft. Und dennoch, selbst als ihm das alles ohne Vorwarnung aus den Händen gerissen worden war, hatte er es nie vermisst. Vielleicht am Boden zerstört, weil er seinen Traum hatte aufgeben müssen, aber es hatte sich nie so angefühlt, als würde ihm ein Teil seiner selbst fehlen.
Er vermutete, dass er dieses Gefühl jetzt haben würde, wenn er ‒ aus irgendeinem Grund ‒ alles in Fairfield verlieren würde. Er hatte nie den Eindruck gehabt, für das Kleinstadtleben gemacht zu sein, dennoch war er hier.
»Alter, du solltest dein eigenes Fitnessstudio eröffnen oder so was«, sagte Cale rechts neben ihm.
Niko sah zu seinem Kumpel hinüber ‒ dessen zu stark gebleichtes Haar schweißnass war und dessen Haut durch die Anstrengung, die Gewichte zu stemmen, rosig glänzte. »Warum zum Teufel sollte ich das tun?«
»Weil du praktisch hier lebst?«, schlug Sage vor. Sage bildete einen seltsamen Gegensatz zu Cale und ihm. Er war riesig, mindestens 1,90 Meter groß, mit braunem Haar, geweiteten Ohrlöchern, einem Lippenpiercing und beide Arme von Tattoos bedeckt. Sage war der Verschlossenste von ihnen dreien. Er war nicht der Typ, der über sein Privatleben sprach, und er schlug nie vor, abgesehen von ihrer Zeit im Studio, Zeit zusammen zu verbringen.
Niko wusste nur, dass Sage einen Verlobten gehabt hatte, der gestorben war, weil er ihn eines Abends nach einer anscheinend recht heftigen Auseinandersetzung in einer Bar zufällig getroffen hatte und Sage ziemlich offensichtlich geweint hatte. Niko hatte Sage seine Adresse aus der Nase gezogen und dafür gesorgt, dass er ins Bett kam. Gerade als Niko den Raum verlassen wollte, hatte Sage sehr leise geflüstert: »Warum bist du einfach gestorben, Ted? Du verdammter Idiot. Wir wollten doch heiraten.«
Niko hatte ihn nicht danach gefragt. Nie. Und Sage hatte nie darüber reden wollen, was in Ordnung war. Objektiv betrachtet war er einer der heißesten Typen, die Niko je gesehen hatte, und er hatte einen Uniabschluss in Mathematik und Physik. Er hatte einen späten Start gehabt und eine schwere Vergangenheit, außerdem war er beängstigend schlau. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Sie waren sogar einmal beinahe aufeinander losgegangen, weil sie sich nicht einigen konnten, ob Tomaten Obst waren oder nicht. Niko wusste, dass sie es technisch gesehen waren, aber das zählte nicht, und das war das Problem.
Trotzdem war er ein toller Trainingspartner und Niko hatte nicht vor, einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen.
»Alter, bist du noch da?«, fragte Sage.
Niko blinzelte. »Tut mir leid. Ich war in Gedanken woanders. Es war eine lange Woche und ich habe das Gefühl, mir läuft das Gehirn aus den Ohren. Aber egal, ich will kein Fitnessstudio eröffnen, denn ich komme zwar gern her, aber ich will nicht hier arbeiten. Ich will nicht, dass sich das hier wie Arbeit anfühlt. Ähm, und davon abgesehen habe ich vielleicht eine andere Idee.«
Es gab in der Nähe des einzigen Blumenladens im Ort ein Restaurant, das im Begriff war zu schließen. Es war ein kleines American Diner, in das nie jemand ging, denn dieser Kram war für die Hipster der Stadt einfach zu passé. Er hatte überlegt, dort eine Art neumodisches griechisches Restaurant zu eröffnen, denn er konnte mit Leichtigkeit die alten Familienrezepte von seiner Mutter bekommen und ihnen einen modernen Anstrich verpassen. Hausgemachtes Essen mit modernem Einschlag, damit all die großkotzigen Yuppies jeden Abend dort essen wollen würden.
Er liebte es, als Buchhalter zu arbeiten ‒ Zahlen ergaben einfach Sinn ‒, aber in letzter Zeit sehnte er sich nach etwas anderem. Etwas Beständigem, um Wurzeln zu schlagen. Er hatte das Geld dafür ‒ verdammt, er hatte mehr als das, obwohl er nicht glaubte, jemand in Fairfield könnte eine Ahnung haben, dass er ein richtiger Millionär war ‒ und es gab keinen Grund, es nicht zu versuchen. Er verdiente genug und wenn es hart auf hart kam und er alles verlor, würde es ihm nicht schlechter ergehen als jetzt im Moment.
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