An dem Tag, als er in dem kleinen Kunstraum gesessen, ein Stück Zeichenkohle zur Hand genommen und begonnen hatte, auf der leeren Leinwand zu zeichnen, war etwas in ihm explodiert, wie ein brüllendes Feuer, auf das man Benzin gegossen hatte. Damit verbrachte er nun seine gesamte Zeit, erschuf ein Bild nach dem anderen, obwohl er keine Ahnung hatte, was zum Teufel daraus werden sollte.
»Kunst, schätze ich«, antwortete er schließlich. »Ich denke, ich will etwas mit Kunst machen.«
Aus irgendeinem Grund strahlte Tony daraufhin wie ein Honigkuchenpferd. »Wirklich? Denn, Mann, ich habe da eine Idee, die du dir echt anhören solltest.«
Wenn irgendjemand Sam damals erzählt hätte, dass er neunzehn Jahre später zusammen mit einem Mann, von dem er gedacht hatte, er würde ihn nie wiedersehen, ein Tattoostudio leitete und drauf und dran war, ein kleines Mädchen zu adoptieren, das ihn Dada nannte und glaubte, in seinen Armen ginge die Sonne auf und unter, hätte er demjenigen nicht geglaubt. Aber hier war er nun, glücklich und zufrieden, und hatte endlich das Gefühl, dass sein Leben war, wie es sein sollte.
Wäre das doch bloß von Dauer gewesen.
»Niko Pagonis. Wie fühlt es sich an, aus einem kleinen Fischerdorf in Griechenland zu kommen und plötzlich eines der am heißesten gehandelten Talente der NHL zu sein?«
Sein Lachen war leicht und unbeschwert, sein Haar von seinem Helm zerzaust, die Handflächen in den Handschuhen verschwitzt. NHL
Niko schaltete den Fernseher aus und seine Hand zitterte, als er die Fernbedienung auf den Couchtisch warf und stattdessen nach dem Bier griff, das er eigentlich nicht trinken sollte. Aber, um ehrlich zu sein, es half besser als die Pillen, die man ihm verschrieben hatte. Er war kurz davor, von ihnen abhängig zu werden, und ihretwegen juckte es ihn am ganzen Körper. Er hatte das Gefühl, als würden die Muskeln, die er jahrelang aufgebaut hatte, dahinschmelzen, während er so dalag und nicht fähig war, sich zu bewegen. Die Streckschiene an seinem Knie verursachte ihm Schmerzen und er wollte am liebsten das ganze Ding abreißen und sich vielleicht das Bein abhacken, wenn ihm nicht schon allein beim Gedanken übel geworden wäre.
Schon immer hatte man sich über seine Überempfindlichkeit lustig gemacht. Jede Mannschaft, für die er je gespielt hatte, hatte ihn gnadenlos damit aufgezogen, dass er beim Anblick von Blut ohnmächtig wurde. Sein Spitzname war Fainting Goat, denn mindestens einmal pro Spiel kippte er beim Anblick von Rot auf dem Eis um, und oft genug war es sein eigenes, weil man ihm einen Zahn ausgeschlagen hatte.
Dennoch war es toll gewesen. Das war seine Familie. Eishockey war sein Trost gewesen ‒ seine Therapie sozusagen ‒, nachdem sein Dad gestorben war. Sein Dad, der nie ein einziges seiner Spiele verpasst hatte, seit er direkt nach der Highschool für die Junior League in Quebec rekrutiert worden war. Sein Französisch war ganz passabel, nachdem diese Zeit vorbei war, und er war als Nummer sechs gedraftet worden. Florida hatte ihn gewählt und er war sofort ins Farmteam, zur Ausbildung junger Spieler, gewechselt, was für ihn vollkommen in Ordnung war. Er wollte sich seinen Platz verdienen und mit seinem Milchgesicht und seiner Fähigkeit, auch dann einen Schlagschuss auszuführen, wenn ein riesiger Schwede direkt vor ihm stand, fiel er auf. In seiner ersten Saison schaffte er vier Hattricks und sieben in der zweiten.
Da wurden die Teambesitzer aufmerksam und sein Name kam ins Gespräch. Sein Agent rief ihn täglich an und sagte ihm, dass er seine Vertragslesefähigkeiten aufpolieren sollte, denn die Dinge würden sich prächtig entwickeln. Seine Möglichkeiten auszuloten, war das Wichtigste, und er würde Rekorde brechen, wenn er endlich auf dem Eis der NHL stand, verdammt noch mal.
Und einen Rekord brach er wirklich. Die kürzeste Zeit in einem Spiel der NHL, bevor er offiziell in den Ruhestand ging. Er wusste nicht, wieso sein Trikot einen Ehrenplatz unter der Hallendecke bekommen hatte ‒ was sollte das, wenn er doch nichts für sein Team geleistet hatte, um sich das zu verdienen? Zwei Minuten und neunzehn Sekunden auf dem Eis, bevor eine Kufe den fehlerhaften Schützer an seinem linken Bein sauber durchschnitten und die Bänder in seinem Knie zerstört hatte. Sechs Operationen und neun Monate in einer verdammten Streckschiene später hatten die Ärzte ihm gesagt, er würde wieder laufen können. Er könnte sogar wieder rennen, verdammt, und Trainingsübungen machen. Außerdem würde er jede Menge Zeit haben, sich einen neuen Karriereweg zu überlegen, denn schließlich war er erst einundzwanzig.
Aber auf dem Eis würde er nie wieder stehen. Jedenfalls nicht professionell. Sein Traum war durch einen Produktionsfehler in Flammen aufgegangen, der ihm sechs Millionen auf seinem Konto eingebracht und ihm klargemacht hatte, dass die Welt sich nie an seinen Namen erinnern würde.
Er redete sich ein, dass es so besser war. Und verdammt, wenigstens konnte er sich jetzt outen. Er würde seine romantischen Anwandlungen nicht auf Blowjobs im Besenschrank beschränken und nicht mehr vorgeben müssen, dass der heiße Barkeeper und er nur befreundet waren. Er hatte damals akzeptiert, dass er als schwuler Mann in der Sportwelt nicht überleben würde, wenn er Karriere machen wollte. Dass er nun die Freiheit hatte, er selbst zu sein, ohne sich entscheiden oder mit Konsequenzen rechnen zu müssen, das war doch was. Das würde er als Sieg verbuchen.
Aber manchmal war es zu viel. Es brachte ihn um, diese alten Interviews von sich selbst zu sehen, wie er mit unschuldigem Gesicht und leuchtenden Augen, die nicht durch starke Schmerzmittel und Schlafmangel vernebelt waren, vor der Kamera stand, in der Stimme das Versprechen auf eine großartige Zukunft, die seine eigene hätte sein sollen. Die Verbitterung erstickte ihn beinahe.
Er stürzte den Großteil seines Biers hinunter und ließ den Kopf nach hinten auf die Sofakissen fallen. In seinem Posteingang wartete eine E-Mail, irgendetwas darüber, wie gut er in Mathematik war und dass er darüber nachdenken sollte, sich ins MBA-Programm in Denver einzuschreiben. Dort gab es gute Jobs und es war ein Ort, an dem niemand über sein kolossales Versagen Bescheid wissen würde. Er starrte auf seine Zehen, die aus seiner Schiene herausschauten, und wackelte mit ihnen. Sie waren immer noch lila und irgendwie hässlich, und es wäre echt ein hartes Stück Arbeit, sie in einen Schlittschuh zu zwingen, aber das spielte keine Rolle mehr. Er brauchte keine Schlittschuhe mehr. Er war im Ruhestand.
Er war im Ruhestand, verdammt noch mal, ob er wollte oder nicht.
Niko streckte sich nach seinem Handy, öffnete die E-Mail seines alten Kumpels und las sie zu Ende. Ein Haus mit zwei weiteren Mitbewohnern in einer Kleinstadt namens Fairfield und man konnte den Campus in nur zwanzig Minuten über den Freeway erreichen. Er hatte genug Geld, um die Collegegebühren zu bezahlen, wenn er das wirklich tun wollte, und, verdammt, was konnte es schon schaden?
Sein Finger schwebte über dem Anrufen-Button neben dem Namen seiner Mutter und er fragte sich, was sie wohl dazu sagen würde. Sie würde wahrscheinlich bloß lachen und ihm versichern: »Matia mou, was auch immer dich glücklich macht, macht auch mich glücklich.«
Ein Teil von ihm wollte nach Jersey zurückkehren, um einfach nur bei ihr zu sein und vor sich hinzugammeln ‒ ihr erlauben, dass sie sein Geld ausgab, und sich wieder in seine Kindheit zurückversetzt fühlte. Und ein Teil von ihr würde es lieben. Sie sehnte sich nach dem Gefühl, gebraucht zu werden, besonders nach dem Tod seines Vaters. Aber seine Schwester Sophia und ihr Ehemann und ihre beiden Kinder waren da und das reichte seiner Mom, um zufrieden zu sein. Es war nicht nötig, dass ihr erwachsener Sohn ihr am Rockzipfel hing wie ein peinlicher Versager. Außerdem war es schon schwierig genug gewesen, sie zu überreden, dass er ihr Haus abbezahlen durfte, obwohl es nur noch ein paar Tausend Dollar waren. Selbst wenn er dort auftauchen, auf dem Sofa schlafen und für den Rest seines Lebens Doritos essen sollte, würde sie keinen Cent von seinem Geld anrühren.
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