„Weißt du noch, damals, als wir uns kennen gelernt haben?“
„Wie könnte ich das vergessen“, säuselte Dirk. „Du hattest ein blaues Kleid an mit einem tiefen Ausschnitt. Außerdem warst du blond damals.“
Ich verkniff mir eine Korrektur. Das Kleid war grün, die Haare rot.
Aber es waren ja viele Männer farbenblind!
Trotz der schrägen Töne der Band genoss ich den Tanz mit Dirk. Und das war gut so, denn es sollte der einzige des Abends bleiben.
Nach dem Anstandstanz mit seiner Partnerin widmete sich Dirk für den Rest des Abends der einsamen, frisch geschiedenen Angelika.
Ich sah, wie er sein Knie unter dem Tisch gegen ihres drückte, als er ihr zuprostete. Der Wein schmeckte mir plötzlich sauer, mit jedem Schluck vermehrte sich meine Magensäure. Sie verätzte nicht nur meinen Magen, sie stieg hoch, sauer, brennend in meine Speiseröhre, verursachte einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Ich schluckte, schluckte, schluckte, um zu verhindern, dass Galle aus meinen Mundwinkeln lief.
Als Dirk und Angelika auf der Tanzfläche ihren Flirt fortsetzten, bestellte ich mir den ersten Schnaps. „Schluck“ hieß so etwas in Ostfriesland und obwohl ich es nicht gewohnt war, schluckte ich eine ganze Menge davon.
Da die beiden meine Anwesenheit offensichtlich völlig vergessen hatten, bemerkten sie meinen Zustand nicht. Erst als ich „nimm dich in Acht, ich bin nämlich eine Hexe“ lallte und Angelika meinen drohenden Zeigefinger unter die Nase hielt, brachte Dirk mich nach Hause.
„Wie kannst du dich so betrinken? Was soll Angelika von dir denken?“, schimpfte er mich aus.
„Ist mir total egal, die denkt bald gar nichts mehr“, nuschelte ich, während Dirk mir die Treppe zu unserem Schlafzimmer hoch half.
Trotz meines Alkoholpegels konnte ich nicht einschlafen, hörte die Tür zuschlagen, als Dirk wieder ging und wollte heulen. Aber es ging nicht. Die Säure in meinem Magen hatte alle Flüssigkeit meines Körpers in sich aufgesogen, für Tränen war nichts mehr da.
Ich steckte mir den Finger in den Hals, wollte die Galle und all das Elend in mir herauskotzen. Es funktionierte nicht. Nur ein trockenes Würgen war die Folge und ein grässliches Brennen im Hals.
Am nächsten Morgen erwachte ich von einem Martinshorn, dass unbarmherzig in meinen Ohren dröhnte.
„Steh auf“, herrschte Dirk mich an. „Mach Frühstück für die anderen Gäste. Ich muss weg. Angelika suchen. Sie ist nicht in ihrem Zimmer. Mein Gott, hoffentlich ist sie nicht ins Watt gelaufen!“
Ich befand mich in einem schrecklichen Zustand. Zu dem galleartigen Geschmack war jetzt auch noch Trockenheit in meinem Mund entstanden. Meine Zunge klebte dick an meinem Gaumen. Mein Kopf dröhnte, ein Schmerz kroch vom Nacken hinauf bis zur Stirn und machte mir das Denken unmöglich.
„Wieso Watt. Was macht sie denn im Watt?“
Dirk konnte mich schon nicht mehr hören, er war längst davon gestürmt.
Ich ging ins Bad, stellte die Dusche an und ließ mir kaltes Wasser über Kopf und Körper laufen. Vor meinen geschlossenen Augen entstand das Bild einer jungen Frau, die durch knietiefes Wasser watete. Schon bald gingen ihr die Fluten bis zu den Hüften, sie ruderte mit Händen und Füßen und geriet immer mehr in Panik. Sie trieb genau auf ein Priel zu, warf die Arme hoch und schrie und schrie und schrie.
Ich stellte die Dusche aus, trocknete mich ab, zog mich an und bereitete das Frühstück für die Gäste.
Dirk kam gegen Mittag mit unserem Dorfpolizisten zurück. „Ich muss noch ein Protokoll aufnehmen, Dirk“, hörte ich den Beamten sagen.
Ich blieb im Flur stehen, damit die beiden mich nicht sehen konnten. Ich wollte hören, was Dirk zu berichten hatte.
„Du bist also um ca. 1.00 Uhr mit ihr nach Hause gegangen, Dirk?“
„Ja, die Band hat bis 0.30 Uhr gespielt, danach haben wir noch etwas getrunken, dann sind wir aufgebrochen.“
„Direkt nach Hause?“
„Nein, wir sind noch etwas spazieren gegangen. Die Luft war ja schon so mild. Gar nicht kalt. Wir sind bis zum Wattenmeer gelaufen. Ich habe es ihr gezeigt, habe auch erklärt, wie gefährlich es ist, dort allein herumzulaufen, wenn die Flut kommt.“
„Wann wart ihr zu Hause?“
„Gegen 2.00 Uhr, genau weiß ich das nicht mehr. Sie ist sofort auf ihr Zimmer gegangen.“
„Vielleicht hat sie sich nur von dir verabschiedet und ist noch einmal allein losgegangen. Vielleicht, weil der Abend so mild war.“
„Nein, sie ist auf ihr Zimmer gegangen. Ich weiß es genau.“
„Du weißt es genau? Warst du dabei?“
„Ehhm, ja, ich war dabei. Aber bitte halt die Klappe. Regina braucht das nicht mitzubekommen.“
„Schon klar, Dirk, mach dir keine Sorgen. Aber irgendwann ist Angelika noch einmal herausgegangen. Hattet ihr vielleicht Streit?“
„Na, ja, sie machte gleich einen auf große Liebe und so. Ich habe ’ne Weile mitgespielt, aber dann wurde es mir zu viel. Ich hab ihr deutlich gesagt, dass nach dem Urlaub alles zu Ende sein muss. Und das Regina nichts erfahren darf.“
„Könntest du dir vorstellen, dass sie absichtlich ins Wattenmeer gelaufen ist, Dirk?“
„Ich weiß es nicht. Sie war eigentlich nicht der Typ für so etwas. Aber man weiß ja nie …“
Ich schlich leise aus dem Flur in die Küche. Dort stand das Frühstücksgeschirr noch herum. Ich begann, es in die Spülmaschine zu räumen und blickte erstaunt auf eine Träne, die aus meinen Augen in eine Kaffeetasse gefallen war.
Um wen weinte ich? Um Angelika, um Dirk, um mich?
Ich wusste es nicht, aber ich wollte es auch nicht wissen.
Angelikas Leiche wurde zwei Tage später auf Norderney angespült.
Eine Woche später, als alle gerichtsmedizinischen Untersuchungen und die Obduktion abgeschlossen waren, wurde sie in ihre Heimatstadt Emmerich überführt.
Ein Bruder war angereist und begleitete seine tote Schwester im Leichenwagen.
Torsten, mein Sohn, war heilfroh, als wir nach Kamen zurückzogen. Er hatte sich in Ostfriesland nie einleben können.
Und Dirk hatte er sowieso nicht gemocht.
„So eine Schweinerei!“ Anton Praetorius stand mit einem Eimer Wasser und einem Putzlumpen vor seinem Haus und betrachtete die Haustür. „Teufelsbuhle“ hatte jemand mit schwarzem Ruß an die Tür geschmiert. Energisch begann der Pfarrer, die Schmiererei mit einem Lappen und Wasser zu bearbeiten.
„Warte, ich bringe dir Seife. Nur mit Wasser kannst du dem Ruß nicht zu Leibe rücken.“ Maria reichte ihrem Mann ein großes Stück Seife und nickte ihm zu.
„Die ist doch viel zu kostbar, um sie für so eine Schweinerei zu vergeuden.“
„Kostbar oder nicht, Anton, du wirst es anders nicht abbekommen. Und ich will es weg haben. Schon viel zu viele Leute aus Kamen haben es gelesen.“
„Sollen sie es lesen! Ich werde meine Meinung nicht ändern. Und ich werde sie jeden Sonntag laut von der Kanzel aus verkünden. Solange man mich lässt!“
„Anton, ich habe Angst. ,Teufelsbuhle‘ bedeutet, dass du ein Freund der Hexen bist. Sie werden dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen.“
„Das werden sie nicht wagen, Maria. Ich habe einflussreiche Freunde in Kamen. Und wenn es zu gefährlich wird, gehen wir weg von hier, Maria. In Worms hat man mir eine Stelle als lutherischer Diakon angeboten.“
„Dann lass uns nicht zu lange warten. Ein Umzug ist eine große Anstrengung für eine schwangere Frau.“
Anton nahm Maria in die Arme. Er wusste, dass sie Angst um ihr zweites Kind hatte, das im Herbst geboren werden würde. Es ging Maria nicht gut. Häufig hatte sie Blutungen und viel zu früh hatten sich erste Senkwehen eingestellt.
„Wir machen es anders, Maria. Wir warten, bis das Kind geboren ist und ziehen nach Worms, sobald es dir und dem Kind wieder gut geht.“
Читать дальше