Gleich würden sie hineinströmen, in die Kirche, würden beten und singen und sich gegenseitig in ihrer Grausamkeit bestärken.
Sie würden die Kälte bejammern, die immer mehr zunahm, die das Korn verfaulen ließ, in die Häuser kroch, sie feucht und muffig machte, so dass kein Feuer ihrer Herr wurde.
„Merkt ihr nicht, dass die Kälte aus euren Herzen kommt?“ Praetorius schrie sich immer mehr in Wut. Die richtige Stimmung für die Predigt, die er gleich halten würde. Er würde ihnen einheizen, den braven Bürgern Kamens, allesamt grausame Folterknechte, Mörder. Kein Blatt würde er vor den Mund nehmen, auch wenn er nicht Rektor der Lateinschule werden würde, wenn sie ihn verjagen würden aus Kamen.
Er würde ihnen den Hexenwahn austreiben und wenn es ihm nicht gelang, würde er weiter ziehen. In einen anderen Ort, wo die Menschen vernünftiger waren, klüger, wo man die Bibel richtig verstand.
Während er die Stufen wieder hinab stapfte, tauchte ein Bild aus seiner Kindheit vor seinen Augen auf.
Ein niedergebrannter Holzhaufen, aus dem immer noch leichter Rauch aufstieg. In der Mitte ein verkohlter Pfahl, an dem ein unförmiger Klumpen hing, schwarz, stinkend. Erst in der Kontur erkannte man schwach so etwas wie einen Kopf, verkohlt, aufgeplatzt, ein weit aufgerissenes Maul, gelbe Zähne einer Totenfratze. Er hatte sie gekannt, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Mit lustigen roten Zöpfen, das gern hüpfend durch die Gassen sprang. Das Essen war knapp in ihrem Elternhaus, so war sie leicht gewesen wie eine Feder oder … dünn wie eine Hexe.
Ich war fünfunddreißig, als ich meiner ganz großen Liebe begegnete. Damals frisch geschieden, mit einem zehnjährigen Sohn, dessen Erziehung mir nicht gerade leicht fiel.
Mein Mann war ein Nachbarsjunge gewesen, mit dem ich praktisch aufgewachsen war.
Irgendwann hatten wir beide das Gefühl, etwas verpasst zu haben und so beschlossen wir, auseinander zu gehen.
Im Guten, ohne das berühmte „Schmutzige-Wäsche-Waschen“. Unsere Anwälte sorgten dafür, dass das nicht ganz so ablief, schließlich wollten sie ja beide etwas an uns verdienen.
Aber nach monatelangem Gerangel und Gezerre kam endlich der Gerichtstermin und wir waren wieder frei. Frei für ein anderes Leben, für Abenteuer, für neue Lieben.
Wir beeilten uns beide damit. Mein Mann war schon nach einem Vierteljahr wieder verheiratet und ich, wie schon erwähnt, traf meine große Liebe.
Dirk war Student, ewiger Student nennt man so etwas wohl. Er studierte Geografie und Tourismus, eine gelungene Kombination, fand ich. Irgendwie klappte es allerdings mit dem Diplom nicht so recht. Ihm fehlte einfach die Zeit, weil er neben dem Studium als Kellner jobben musste. Also zogen wir zusammen. Er sparte dadurch die Miete und ich bestritt unseren gesamten Lebensunterhalt, so dass er die Kellnerei an den Nagel hängen und sich endlich voll und ganz seinem Studium widmen konnte.
Es dauerte dann nur noch knapp drei Jahre, bis er seinen Abschluss in der Tasche hatte.
Euphorisch von so viel beruflichem Erfolg machte er hochtrabende Zukunftspläne.
Er wollte ganz groß ins Touristikgeschäft einsteigen.
„Bei meinem akademischen Background bietet sich das an“, erklärte er mir.
Als unser Reisebüro allerdings schon nach einem halben Jahr wegen Überschuldung wieder geschlossen werden musste, begann ich, an dem Vorteil eines akademischen Backgrounds zu zweifeln.
Aber Dirk hatte bereits neue Pläne geschmiedet. Wir zogen um an die Nordsee und eröffneten in der gesunden Seeluft eine kleine Pension.
„Haus Regina“ strahlte es von einem beleuchteten Schild herab und das machte mich richtig stolz. Natürlich musste ich meinen Job als Sekretärin an den Nagel hängen, denn nun hieß es, Frühstück für die Gäste zuzubereiten, Betten zu machen, Zimmer zu putzen und … und … und …
Aber es machte mir Spaß. Dirk wirkte als Maître Domo hinreißend und ich kam mit der neuen beruflichen Erfahrung ganz gut klar.
Was mir weniger Spaß machte, war die Erkenntnis, dass es viele alleinreisende Damen gab, die es ausgerechnet in unser kleines Nordseedorf zog. Dabei war mir völlig schleierhaft, wie man brennend vor Reise-, Lebens- und Abenteuerlust Norddeich als Urlaubsort wählen konnte, wo doch Mallorca oder Ibiza viel verlockender klangen.
An unseren Preisen konnte es jedenfalls nicht liegen, die waren gesalzen genug.
Dirk war da ganz anderer Meinung als ich. Er genoss es, weibliche Gäste zu bewirten (was allerdings eher meine Aufgabe war) und zu unterhalten (was er wesentlich besser konnte als ich).
„Haus Regina“ florierte. Dirks Gesichtsfarbe nahm eine gesunde Bräune an, während ich zunehmend blasser wurde. Vor Arbeit und vor Eifersucht.
Als Dirk sich eines Abends wieder besonders rührend um eine junge Dame aus dem Ruhrgebiet gekümmert hatte, ging ich wütend ins Bett, ohne im Gästeraum die Tische für das Frühstück einzudecken.
Heulend zog ich die Bettdecke über meinen Kopf und verfluchte die Schnepfe aus Essen. Wilde Träume verfolgten mich dann, grell geschminkt tanzte ich um ein Feuer herum, immer schneller und schneller wirbelte ich herum, schreiend, stampfend, tobend …
War es nur ein Traum oder hatte ich das schon einmal erlebt?
„Los, werd wach, du musst Frühstück machen!“ Dirks Stimme weckte mich am frühen Morgen.
„Inge muss abreisen, ihre Mutter hatte einen Unfall. Sie hat sich an einem Heizkissen verbrannt, musste in die Klinik. Nun mach schon, ich muss Inge um 9.00 Uhr zum Bahnhof bringen.“
Während Dirk sich Sorgen um Inge und die verbrannte Mutter machte, spürte ich eine wohlige Genugtuung.
Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, dachte ich.
Oder war es schon eine große Sünde gewesen? Egal, jetzt war sie weg. Und falls sie es wagen sollte, sich noch einmal anzumelden, würde sie einen äußerst bedauernden Brief bekommen, dass unsere Pension leider ausgebucht sei.
Doch Inge war kein Einzelfall. Ich hatte noch andere Damen zu vertreiben, junge und auch schon etwas ältere, Dirk legte sich da nicht so fest.
Meist waren es harmlose Dinge, die die Damen schließlich zur Abreise veranlassten. Mal eine starke Angina, mal ein Angehöriger, der plötzlich in der Heimat dringend Hilfe brauchte. Bei einer Boutique-Besitzerin aus Gelsenkirchen tauchte unerwartet ein Steuerprüfer auf. Da musste sie natürlich sofort heim und nach dem Rechten sehen. Dirk bedauerte das sehr.
Nur einmal ging es tragisch aus. Ich habe mich nachher oft gefragt, ob es wirklich so kommen musste. Ich hatte Angelika aus Emmerich gemocht.
Normalerweise ging ich nie mit zum Gästeabend, das überließ ich lieber Dirk. Doch diesmal fiel er auf unseren Jubiläumstag, den wir immer für uns allein reserviert hatten.
„Ich muss Angelika begleiten zum Gästeabend. Sie ist frisch geschieden, da kann ich sie nicht mutterseelenallein unter fremde Menschen lassen.“
Dirk fiel dabei überhaupt nicht auf, dass er selbst Angelika auch erst vor fünf Tagen kennen gelernt hatte. War er schon kein Fremder mehr?
„Okay. Dann geh ich eben mit!“
Ich hatte Dirks Augen gesehen, dieses Feuer kannte ich, ich wollte auf Nummer sicher gehen.
„Prima!“, rief Dirk so laut aus, dass ich zusammen-zuckte. „Mach dich aber schick, damit du mit Angelika konkurrieren kannst.“
Es sollte ein Scherz sein, aber dieser Satz traf mich tief.
Der Gästeabend war gut besucht. Der Große Saal im Haus des Gastes war bunt geschmückt. „Tanz in den Mai“ hieß das Motto und die Wände waren mit frischen grünen Birkenzweigen dekoriert. Dazwischen leuchteten rote Krepprosen und von den Decken strahlten riesige gelbe Sonnen herunter.
Die Band mutete eher bayrisch als ostfriesisch an. Sie spielten nicht besonders gut, dafür aber laut. Ihr Repertoire umfasste die gesamte NDR-1-Hitparade und kam bei den Gästen gut an. Ich fand es von Dirk sehr nett, dass er mich gleich beim ersten Tanz aufforderte.
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