„Hast ja Recht, Praetorius. Aber dieser Hexe muss das Handwerk gelegt werden. Als Pfarrer hast du doch Einfluss auf die Kirche, Anton. Sie muss Klage erheben.“
„Du bist doch selbst Richter, Johann. Für eine Anklage brauchst du die Kirche nicht. Oder möchtest du deine Hände in Unschuld waschen? Soll niemand wissen, dass du hinter der Sache steckst? Weil deine Frau ihre Magd so sehr liebt, Johann? Ist es so?“
Anton Praetorius hatte sich ereifert und beugte sich drohend über den zusammengesunkenen Richter.
„Ich habe sie brennen sehen, Johann. Halbe Kinder noch, unschuldig wie ein Lamm. Gefoltert mit Daumenschrauben, Peitschen und Stöcken, eingetaucht in eiskaltes Wasser, verbrannt mit in Schwefel getauchten Federn, gebadet in siedendem Kalkwasser haben sie schließlich alles gestanden, was man ihnen vorwarf. Besonders gnädige Richter bewilligten diesen armseligen Kreaturen die Erdrosselung vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen. Ich war dabei, Johann.“
Richter Bodde erhob sich. „Also gut, Anton. Du willst mir nicht helfen. Wenn du dabei bleibst, wird Kamen einen anderen Rektor an seiner Lateinschule bekommen. Dafür werde ich sorgen.“
Ohne Gruß verließ Johann Bodde die Behausung des Pfarrers.
Die kleine Leichenhalle von Prüm war bis auf den letzten Platz besetzt. Auch draußen, vor der Halle, standen noch viele Trauergäste und lauschten den Worten des Pfarrers. Thomas Bergental war ein guter Mensch gewesen, hatte sich aufgeopfert für seine Familie und seine Freunde. Er hatte Gottes Gebote geachtet, war konfirmiert worden, hatte sich kirchlich trauen und seine Kinder taufen lassen. Er war klug und besonnen, hilfsbereit und großmütig gewesen. Eine Mischung aus Albert Einstein und Mutter Teresa.
An manchen Stellen der Trauerrede hätte ich beinahe laut aufgelacht.
Der Sarg war mit blauen Iris und weißen Gerbera geschmückt.
Die Zusammenstellung gefiel mir und ich starrte fasziniert auf das riesige Sarggesteck. „Er hat Blumen so geliebt“, flüsterte mir meine Banknachbarin zu, die sich als „Cousine des Verstorbenen“ vorgestellt hatte. Einen Moment lang dachte ich, dass ich vielleicht auf der falschen Beerdigung sei. Da ich aber Marion und ihre Kinder in der ersten Reihe sitzen sah, hielt ich das für sehr unwahrscheinlich.
Endlich beendete der Pastor seine Rede und erhob die Arme, um den Segen zu spenden.
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen!“
Die Sargträger eilten herbei, hoben den schweren Sarg mit dem noch schwereren Thomas auf eine Art überdimensionalen Servierwagen und rollten ihn hinaus. Brav in Zweierreihen trottete die Trauergemeinde hinterher bis zur letzten Ruhestätte des lieben Verstorbenen.
Der Pastor ließ es sich nicht nehmen, auch hier am offenen Grab noch einige passende Worte zu verkünden.
„Asche zu Asche, Staub zu Staub“ hallte es über den Friedhof und ich dachte darüber nach, wie viel Zeit wohl noch vergehen würde, bis ich zu Staub und Asche verfallen würde.
Ich warf die weißen Röschen ins Grab, gab Marion und den Kindern die Hand und lächelte höflich, als Marion mir zuraunte: „Du kommst doch auch zum Kaffeetrinken in den Dorfkrug?!“
Ich hatte keine Kaffeekarte, nicht einmal einen Totenbrief bekommen, sondern gehörte zu dem Personenkreis, „der aus Versehen keine Benachrichtigung erhalten hatte“ und von der Todesanzeige in der Zeitung in Kenntnis gesetzt worden war.
Ich hasste Beerdigungskaffeetrinken. Und Thomas hatte ich auch gehasst.
Thomas war an einer Fischgräte erstickt.
Ich erfuhr es von Helga, die es von einer Freundin gehört hatte.
Dass Thomas Fisch liebte, wusste ich nur zu gut.
Ich lächelte, als ich den holprigen Friedhofsweg zurück zum Parkplatz ging.
Damals, als wir auf Sylt waren, aß Tommi jeden Tag Fisch.
„Nirgends ist er so frisch wie hier“, schwärmte er und versuchte wieder einmal, mich ebenfalls zu einer „Scholle Finkenwerder Art“ zu überreden.
Ich war stur geblieben und bestellte ein Rumpsteak medium.
Eigentlich hätte ich gern die Scholle oder etwas anderes aus dem Meer probiert, aber schon der Gedanke an Thomas Reaktion „Siehst du, habe ich dir doch gleich gesagt!“, weckte meinen Trotz.
Ich wollte ich bleiben, kein „Tommi-Wackel-Dackel-Hündchen“ werden, das gab es schon.
Wir wohnten damals in einem kleinen Hotel in Westerland, schön zentral gelegen, nicht ganz so vornehm, denn das hasste ich. Wir waren zum Biikebrennen hergekommen, einem Spektakel, das jedes Jahr im Februar auf Sylt stattfand.
Am Morgen des 21. Februars machten wir eine lange Wanderung um den Ellenbogen. Es nieselte etwas, aber wir waren warm angezogen, dicke Pullover und darüber Regenjacken, meine in rot, Tommis in grün.
„Du musst es ihr endlich sagen.“
Tommi nickte, aber ich kannte dieses Nicken. Wütend stapfte ich weiter, sammelte ein paar Muscheln auf und einen Stein, den ich für einen Bernstein hielt. Mit Thomas sprach ich nicht mehr.
Erst am Abend, als wir uns in alten Jacken auf dem Weg zum Feuer machten, hielt ich das Schweigen nicht mehr aus.
„Heute Abend musst du Grünkohl mit Schweinebacke essen, das ist Tradition beim Biikefeuer.“
„Ja, ja, ich weiß, der Gott Wotan soll gnädig gestimmt werden und den Winter vertreiben. Gut, dass ich nicht Wotan bin. Mit Grünkohl könntest du mich nämlich vertreiben, aber nicht gnädig stimmen. Willst du mich vertreiben?“
Thomas zog mich an sich und versuchte, mich zu küssen.
„Nein, das will ich nicht. Aber wenn du nicht machst, was ich sage, stoße ich dich ins Biikefeuer und lass dich verbrennen.“
„Du, Hexe!“, schrie Tommi, fasste mich grob beim Nacken und drückte meinen Kopf herunter.
In dieser Haltung liefen wir kreischend weiter, immer in Richtung des Feuers, das bereits hoch in den Himmel loderte und ringsum Rauch und Funken versprühte.
„Ihr müsst zusammen über das Feuer springen“, riet uns ein vorbeilaufender Seebär, „das schweißt für immer zusammen.“
„Dann wähle ich doch lieber den Feuertod“, rief Tommi und ich lachte eine Spur zu laut.
Und dann, in unmittelbarer Nähe des Feuers, spürte ich wieder diese seltsame Aura, ein Gefühl von Angst und Schmerz, das ich kannte. Kannte aus einer anderen, fernen Zeit. Zitternd hielt ich mich an Thomas fest.
Einige Tage nach unserer Reise rief Thomas mich an und sagte mit fremder Stimme, dass er es für besser hielte, wenn wir uns eine Weile nicht bla, bla, bla, bla …
Da bereute ich zum ersten Mal, ihn nicht ins Biikefeuer gestoßen zu haben.
Anton Praetorius stieg mit kräftigen Schritten die schmalen Stufen zum Glockenturm hinauf. Hin und wieder stieß er schnaubend die Luft aus seinem Mund. Nicht wegen der Anstrengung, die ihm das Treppensteigen bereitete, sondern wegen der Wut, die in seiner Brust rumorte. Warum waren sie alle so verbohrt? Richter Bodde war ein ehrenwerter Mann, ein überzeugter Protestant, klug und belesen. Wieso glaubte auch er, wie viele andere Kamener Bürger, an Hexen und Zauberer?
Für alles wurden diese bedauernswerten Geschöpfe verantwortlich gemacht: für schlechte Ernten, Unwetter, Feuersbrünste, Epidemien und so weiter, und so weiter …
Praetorius wusste, dass selbst Luther und Calvin an die Macht von Hexen geglaubt hatten.
„Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen!“
So zitierten sie das 2. Buch Moses im Alten Testament.
„Aber ihr irrt Euch!“, schrie Anton Praetorius laut herunter vom Glockenturm der Pauluskirche zu Kamen. Ein paar Tauben flogen erschrocken davon und Praetorius begann wütend an den Glockensträngen zu ziehen. Hexerei und Zauberei waren Werke des Teufels, nur Gott konnte dies strafen, nicht die Menschen.
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